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WEI
Es war der Morgen nach meinem Albtraum. Ich saß in unserem Restaurant an einem Einzeltisch und hatte einen Notizblock und einen Taschenrechner vor mir zu liegen. Meine Mutter hatte mich dazu verdonnert, unsere Ausgaben des Monats zusammenzurechnen. Das war ihre Bestrafung dafür, dass ich eine Leiche gefunden hatte. Das Restaurant war noch nicht geöffnet, dadurch konnte ich in Ruhe meine etwas fragwürdige Aufgabe erledigen.
Meine Mutter wirbelte mit einer Sprühflasche und einem Lappen umher und polierte die Tische. Aus meinem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass sie mir immer wieder einen prüfenden Blick zuwarf.
»Wie weit bist du?«, rief sie und kam mit ihren klackenden Stöckelschuhen auf mich zu stolziert.
»Ich bin gleich fertig«, antwortete ich und hielt ihr meinen Notizblock vor die Nase. Sie überflog das Geschriebene schnell und nickte mir wortlos zu. Das sollte gut gemacht heißen. Meine Mutter tat sich sehr schwer mich zu loben. Sie wollte damit vermeiden, dass ich überheblich werde.
Die Küchentür öffnete sich und mein Vater kam schnaufend auf uns zu gelaufen. Er hatte einen dampfenden Bambusbehälter in der Hand und stellte ihn mir auf den Tisch.
»Xiao-wei, hier ist dein Frühstück.« Er öffnete den Behälter und es offenbarten sich ein paar Baozi, gedämpfte Teigtaschen, die ich nur zu gerne zum Frühstück aß. Sie waren gefüllt mit Gemüse, Bohnenpaste oder diversem Fleisch.
»Danke Ba.« Ich lächelte ihn an und auf seinem, von der stressigen Arbeit gezeichneten Gesicht formte sich ebenfalls ein Lächeln.
»Vorsicht heiß«, brummte er, streichelte mir über den Kopf und verschwand wieder in der Küche.
»Die kannst du essen, wenn du fertig bist«, bellte meine Mutter. Sie war offensichtlich genervt von seiner Nettigkeit. Sie empfand es als enttäuschend, dass er mich nicht so streng erziehen wollte.
»Ich habe aber Hunger«, murmelte ich und hoffte, dass sie es nicht gehört hatte.
»Dann solltest du wohl etwas schneller arbeiten.« Sie schnappte sich den Bambusbehälter und stellte ihn auf einen anderen Tisch.
»Vivien, was soll das?« Mein Vater stand hinter ihr. Er kam aus der Küche, ohne das wir es gehört hatten.
»Ich habe Wei eine Aufgabe gegeben und ich möchte, dass er sie erledigt.«
»Und ich habe Wei Frühstück gemacht und möchte, dass er etwas isst. Der Junge hat im Wald eine Leiche gesehen. Das möchte er vielleicht erst mal verarbeiten.«
»Ich dachte ein paar Rechenaufgaben sind eine gute Ablenkung für ihn.« Die Stimme meiner Mutter wurde leise. Ich konnte schon fast etwas Reue hören.
»Nein«, im Gegenzug wurde die Stimme meines Vaters lauter. »Du wolltest ihn bestrafen, dass er sich dazu entschieden hat mit seinen Freunden zu spielen anstatt zu lernen. Es sind Ferien, Vivien. Lass dem Jungen seinen Spaß.«
Meine Eltern redeten über meinen Kopf hinweg, als wäre ich nicht im Raum.
»Ich weiß doch wie gerne er die Abrechnungen macht.«
»Ach ja? Hast du ihn gefragt?« Mein Vater wandte sich zu mir. »Xiao-wei, machst du gerne die Abrechnungen?«
Na toll, jetzt mussten sie mich mit in ihre Erziehungsstreitigkeiten hineinziehen.
»Ich... also...«, mehr als ein Stammeln brachte ich nicht hervor. Ich schaute in das wütende Gesicht meines Vaters und dann in das meiner Mutter. Ihre Mundwinkel hingen nach unten und ihr Blick war starr. Ich hatte Mitleid mit ihr. Sie meinte es ja nur gut, auch wenn das nicht so wirkte.
Ich nickte. Die finsteren Gesichtszüge meiner Mutter verschwanden und sie lächelte.
Mein Vater seufzte und schüttelte den Kopf.
Mir blieb in dieser Situation nichts anderes übrig, als ihn zu enttäuschen. Er würde es verstehen. Das tat er immer.
Ich hatte meine Aufgaben erledigt und mein Frühstück aufgegessen, als ich sah wie meine Mutter vor die Tür ging. Es war also mal wieder Zeit für ihre Raucherpause.
Ich warf mir eine Strickjacke über und folgte ihr nach draußen. Als sie mich sah, wandte sie sich von mir ab.
»Ich weiß, dass du rauchst, Ma«, raunte ich.
»Es ist mir trotzdem unangenehm.«
»Dann lass es.« Daraufhin antwortete sie mir nur mit einem strafenden Blick. Sie schämte sich schon genug für ihre schlechte Angewohnheit und dann brauchte sie nicht noch jemanden, der sie darauf hinweist.
»Ich hatte einen Albtraum letzte Nacht«, offenbarte ich. Ich wusste nicht genau, warum ich das tat. Die Worte sprudelten einfach so aus mir heraus. »Ich habe Angst. Da war eine Kralle unter meinem Kleiderschrank... Es hat sich alles so echt angefühlt.«
Meine Mutter schaute zu mir herab. Sie ließ ihre Zigarette fallen und trat sie aus. »Xiao-wei«, sie ging leicht in die Hocke, damit wir auf Augenhöhe waren. »Ich... ich wusste das natürlich nicht«, sie stammelte. Etwas Schamgefühl lag in ihrer Stimme.
Ich nickte und wartete darauf, dass sie noch etwas sagen würde.
»Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll«, brachte sie hervor. »Ich... setz dich«, sie deutete auf eine Steinbank, die vor unserem Restaurant stand.
Wir platzierten uns nebeneinander und meine Mutter legte einen Arm über meine Schultern. Das war ein schönes Gefühl. Ich bekam selten körperliche Zuneigung von ihr.
»Habe ich dir schon mal erzählt, wie ich eine Leiche fand?«
Ich musste schlucken. Überrascht schaute ich sie an und schüttelte den Kopf.
»Es war damals, als ich mit meinen Eltern noch in Mianyang wohnte. Ich muss 16 gewesen sein und war bei meiner ersten Übernachtungsfeier eingeladen. Ich musste zwei Wochen ununterbrochen lernen, damit ich zu der Feier durfte. Ich hatte meine Eltern so angefleht«, meine Mutter lächelte. »Direkt am Morgen nach der Feier wollte dein Opa mich abholen. Das Haus meiner Freundin war in einem Hinterhof, also konnte er nicht direkt davor parken. Ich lief zur Straße und sah eine Freundin von uns vor dem Haus liegen. Wir hatten etwas getrunken und sie wollte nachts nach Hause gehen. Sie wohnte nur ein paar Fußminuten entfernt. Es hatte in der Nacht so geregnet, da ist sie ausgerutscht und hat sich ihren Kopf auf einem Stein aufgeschlagen. Ich war die erste die sie gefunden hatte. Ich bin panisch zu meinem Vater gerannt und habe ihm nichts erzählt. Ich stand so unter Schock.«
Sie zog mich näher an sich heran. »Ich hatte danach wochenlang Albträume. Jede Nacht sah ich den aufgeschlagenen Kopf in meinem Zimmer, aber ich konnte mit niemanden darüber reden.«
Dann wurde meine Mutter unterbrochen. »Haben sie schon geöffnet?« Eine füllige, blonde Frau stand vor uns. Sie hatte ein schwarzes Kleid und dunkle Absatzschuhe an.
»Wir öffnen in einer halben Stunde«, informierte meine Mutter die Frau.
»Alles klar«, sie lächelte uns zu, »dann suche ich mir schon mal einen guten Platz.« Kichernd verschwand sie im Restaurant.
»Ist das nicht deine Lehrerin Frau Paulsen?«
Ich nickte.
»Ich kann die nicht leiden«, murmelte meine Mutter.
»Ich auch nicht. Wir nennen sie immer Seekuh«, gackerte ich.
Lachend drehten wir uns um und beobachteten durch die Scheibe wie Frau Paulsen sich einen Platz suchte.
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VANITAS
FantasyTheo, 14 Jahre alt, und seine Freunde suchen nach dem perfekten Abenteuer. Tagtäglich bekämpfen sie imaginäre Monster in den Wäldern rund um das kleine Dorf Aalwald. Als sie eines Tages einen schrecklichen Fund machen, ändert sich ihr Leben schlagar...