Teil 1: Theo und die Leiche (2)

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Die Oberschenkel waren mit tiefen Kratzern übersäht. Blut floss aus den Wunden und vermischte sich mit dem Regen und dem Schlamm auf dem Waldboden. Ich machte einen Schritt vorwärts. Es war eine Frau. Nackt. Ich blieb stehen.

»Oh, mein Gott«, flüsterte Wei hinter mir. Ich konnte meinen Blick nicht von der Frau abwenden. Mit Hektor und Wei hinter mir tastete ich mich langsam weiter vor, nun war der Bauch zu sehen. Hektor schnappte nach Luft. Aus einem riesigen Loch im Bauch hingen die Eingeweide der Frau heraus. Gedärme und Blut bedeckten den Waldboden. Ein grauenvoller Anblick.

»Scheiße«, rief Hektor und übergab sich hinter mir. Ich drehte mich kurz zu ihm um und sah wie Erbrochenes auf mein Hosenbein landete. Eine Sekunde später war es aber vom Regen wieder abgespült.

Jetzt wollte ich wissen, wer die Frau ist. Mein Herz bebte, während ich den nächsten Schritt machte. Zuerst enthüllte sich ihre Brust, dann ihre Schultern und schließlich nichts mehr.

»Wo ist der Kopf?«, fragte Wei. Hektor fing erneut an zu würgen. Er drehte sich um, humpelte zu einem Baum und holte tief Luft.

»Jungs«, rief er zu Wei und mir, »ich habe den Kopf gefunden.«

Wir gingen zu ihm hinüber und reihten uns nebeneinander auf. Der Regen prasselte auf uns nieder, Windböen fegten uns um die Ohren und die Krähen veranstalteten immer noch ihr Schrei-Konzert über unseren Köpfen. Mindestens eine Minute standen wir, ohne etwas zu sagen, da und starrten auf den Kopf vor uns auf dem Boden. Er war an einen Baum gelehnt, die Augen waren geöffnet. Es sah so aus, als würde er zu uns zurückstarren.

»Frau Gabrowski?«, ich unterbrach die Stille zwischen uns. Plötzlich stürzte ein großer Ast hinter uns zu Boden. Erschrocken drehten wir uns um und fingen an zu schreien. Brüllend rannten wir los. Als würde uns jemand verfolgen. Hektor kreischte vor Schmerzen, aber blieb nicht stehen.

Hinter den Bäumen vor uns tauchten schon die Lichter unseres Dorfes auf. Das erste Haus war die Polizeistation. Wir rannten schnurstracks auf sie zu und hämmerten gegen die Tür. Alles andere um uns herum war völlig egal, wir wollten nur eins: Sicherheit.

Wolfgang Meier, Hektors Vater, öffnete uns die Tür. Er musterte uns von oben bis unten. Wir drei starrten hilflos in sein zerfurchtes, mit einem dunkelbraunen Vollbart bedecktem Gesicht.

»Um Himmels willen, kommt rein«, rief er plötzlich. »Hannes, mach Tee für die Jungs«, ordnete Wolfgang an.

In der Polizeistation war es relativ dunkel, nur ein paar kleine Lichter brannten, um die Dunkelheit zu bekämpfen. Wolfgang und Hannes waren die einzigen Polizisten im Dienst, wie es schien. Mehr brauchte man meistens auch nicht in unserem Dorf.

Wolfgang setzte uns auf eine Bank neben einer Heizung. »Und hol noch ein paar Handtücher«, brüllte er Hannes hinterher, der mittlerweile in der hintersten Ecke des Raumes verschwunden war. Dort stand der Wasserkocher, neben dem Faxgerät und einem Stapel Akten. Von Ordnung wussten die beiden Polizisten offenbar nicht viel.

Wolfgang holte einen Erste-Hilfe-Kasten, kippte Desinfektionsmittel auf Hektors Knie und drückte ein paar Kompressen auf die Wunde. Hektor verzog sein Gesicht vor Schmerzen, aber sagte nichts.

Zitternd saßen wir drei ganz eng nebeneinander. Meine nassen Haare hingen mir ins Gesicht und Wasser tropfte an mir herunter.

Hannes kam angerannt und breitete die Handtücher über unseren Beinen und Schultern aus. Er drückte jedem von uns eine Tasse gefüllt mit wohlriechendem Tee in die Hände und kniete vor uns nieder. Mit einem besorgten Blick schaute er uns an und fragte:

»Jungs, was ist passiert?«

»Lass sie doch erstmal in Ruhe!«, brüllte Wolfgang. Hannes verdrehte seine Augen, nickte und ging zu einem Schreibtisch. Dort setzte er sich hin und fing an etwas zu schreiben.

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