Teil 11: Theo und die Nymphen

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THEO

Hektor und seine Begleiter verschwanden im Dickicht des Waldes. Sehnsüchtig schaute ich ihnen hinterher. Ich wäre gerne mit auf ein Abenteuer gekommen. Bei genauerem Überlegen war ich mir aber nicht sicher, ob das Suchen von Agnes' Leiche wirklich ein Abenteuer war.

»Theo, kannst du mir mal kurz helfen?«, rief Alma. Sie hatte einen Blechbecher in der Hand und ließ langsam Wasser über Runas Finger laufen. Sie hatte sich diese bei ihrem Anfall aufgekratzt und die Fingernägel abgerissen.

»Hast du Pflaster dabei?«, fragte Alma. Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht für Verletzungen vorbereitet. Das war untypisch. Normalerweise hatten wir immer ein paar Pflaster mit, falls Hektor draußen einen epileptischen Anfall bekam und sich dabei wehtat.

»Macht euch keine Sorgen«, murmelte Runa. Sie verzog ihr Gesicht vor Schmerzen, als Alma über ihre Wunden tupfte. »Ich muss einfach in den See.«

Schwerfällig schleppte sie sich zum Wasser. Sie wischte sich etwas Blut an dem Seidentuch ab, was sie um die Hüften trug. Dann löste sie den Knoten und ließ das Tuch zu Boden fallen. Splitterfasernackt stolzierte sie in den See. Ich erwischte mich dabei, wie ich ihr kurz auf den Hintern starrte.

Runas Körper wurde immer weiter vom See der Wahrheit verschluckt. Sie seufzte als das Wasser ihren Leib umspielte.

Mit leicht geöffnetem Mund folgte ich ihr wie in Trance bis zum Ufer.

Sie ließ ihre Hände durch den See gleiten. Dann schloss sie ihre Augen und verschwand unter der Wasseroberfläche.

»Der See hat heilende Kräfte«, flüsterte Aurela hinter mir.

Mit gerunzelter Stirn drehte ich mich um.

»Der See hat seine Quelle oben auf dem Berg«, Aurela deutete mit einem Zeigefinger auf eine Bergspitze in der Ferne. Hinter dem See erstreckte sich eine Gebirgslandschaft. Wie eine riesige Wand. Um Aalwald herum gab es viele Berge und Hügel, jedoch waren diese nichts im Vergleich zu dem Nebelgebirge.

Anfang des Jahres hatten meine Mutter, Sebastian und ich einen Tagesausflug zu einem Wanderweg im Gebirge gemacht. Aufgrund der vielen Sagen und Mythen, fühlte es sich dort oben tatsächlich sehr magisch an.

»Um die Geschichte zu verstehen, brauchst du etwas Hintergrundwissen. Wir, die Bewohner des Waldes, haben unsere eigenen Götter. Die Naturgötter. Vor vielen Hunderten von Jahren, gab es nur einen einzigen Gott. Er regierte über die Wälder, die Berge, die Sümpfe, einfach alles, was du dir vorstellen kannst. Er hatte zwei Söhne, Ilreus und Thedros. Er sandte beide auf einen Hügel im Nebelgebirge. Sie waren Oberhäupter ihrer Dörfer und sollten seine Botschaft in die Welt hinaus tragen.«

»Ich glaube ich muss mich setzten.« Völlig erstaunt nahm ich auf dem umgekippten Baum Platz.

Aurela lächelte und fuhr fort: »Einmal im Jahr trafen sich die beiden an der Quelle des Glaubens. Hier tauschten sie sich über ihr Leben aus und philosophierten über die Zukunft. Die Söhne Gottes fanden beide eine Frau. Ilreus heiratete eine Medizinerin und Thedros eine Bäuerin. Als die Frau von Ilreus schwanger wurde, verstarb die Frau des anderen. Sie wurde mitten in der Nacht von einem Wolf getötet. Thedros war zuerst voller Leid und Trauer. Später entwickelte sich Eifersucht und Boshaftigkeit in ihm. Er konnte nicht glauben, dass Ilreus eine Frau und mittlerweile auch einen Sohn hatte. Er hatte die Leiche seiner Frau in seinem Bett aufbewahrt und erzählte überall, dass sie krank sei.«

»Und was ist dann passiert?«, aufgeregt wippte ich mit meinen Beinen auf und ab.

»Eins nach dem anderen. Wo war ich?« Aurela überlegte und schaute dabei zu Runa. Diese war mittlerweile wieder aufgetaucht und ließ sich auf ihrem Rücken treiben.

»Ach ja. Bei dem nächsten jährlichen Treffen an der Quelle des Glaubens erschien Thedros nicht. Das machte Ilreus stutzig und er besuchte sein Dorf, um nach dem Rechten zu sehen. Er fand die verweste Leiche seiner Frau und einen leidvollen Thedros. Ilreus wollte ihm helfen, jedoch wurde sein Freund dadurch nur immer wütender. Das Einzige was er wollte, war eine Familie. Also schwängerte er eine Hure im Dorf. Kurz vor der Geburt trafen sich die beiden wieder an der Quelle. Thedros wirkte glücklich und zufrieden, was Ilreus sehr freute. Jedoch hatte er das nur gespielt. Thedros' Eifersucht war unermesslich geworden und verleitete ihn dazu Ilreus an der Quelle mit einem Dolch zu erstechen. Anschließend schlitzte er sich selbst die Kehle durch. Der Dolch landete in der Quelle. Das Blut der beiden vermischte sich mit dem Wasser und verlieh der Quelle und allen daraus entstehenden Gewässern die magischen Kräfte.«

Ich musste schlucken. »Was ist mit den Kindern passiert?«

»Ilreus Sohn Yorparin wurde von Gott die Unsterblichkeit geschenkt. Der uneheliche Sohn von Thedros' und der Hure wurde an der Quelle geboren. Die Mutter wollte ein neues Leben in die Welt setzten, wo ein anderes genommen wurde. Das Kind war unfassbar entstellt und wurde im Dorf gehänselt. Der Gott hatte Mitleid mit dem Kleinen und schenkte ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag die Unsterblichkeit und den Wald. Dieser Sohn ist der Waldgott.«

Mit geöffnetem Mund schaute ich Aurela an. Ich probierte etwas zu sagen, aber brachte nur unverständliches Gestammel hervor.

»Der große Gott, welcher auch der Hirte genannt wird, hat anschließend seine Macht auf viele kleine Götter aufgeteilt. So ist Shivaros an die Macht gekommen«, kommentierte Alma.

»Können wir Hektors Epilepsie im See heilen?«, fragte ich.

Aurela verneinte. »Die heilenden Kräfte helfen nur bei äußeren Wunden.«

Mir schoss ein Gedanke in den Kopf. Ein dummer Gedanke. Aber wir können es auch jugendlichen Leichtsinn nennen. Ich zog mir die Schuhe aus. Dann folgten das Shirt und schließlich die kurze Hose. Lediglich in meiner Boxershorts bekleidet schnappte ich mir eins von Kakos Messern und hielt mir die Klinge an die Handfläche. Ich schaute auf den See der Wahrheit.

»Wenn ich mich jetzt schneide, wird mich der See heilen?«

»Spinnst du Theo?«, rief Alma.

Doch da war es schon zu spät. Mit zusammengekniffenen Augen schnitt ich mit der scharfen Klinge in meine Hand. Was hatte ich da getan? Ich riss meine Augen auf und starrte auf meine Handfläche. Langsam verfärbte sie sich rot. Das Blut strömte heraus und floss an meinen Fingern herab. Aufregung stieg in mir auf. Nervenkitzel.

»Dir ist auch nicht mehr zu helfen, oder?«, zischte Alma und verschränkte ihre Arme.

Schritt für Schritt folgte ich Runa in den See. Das Wasser war angenehm kühl. Die Blutstropfen hinterließen eine rote Spur hinter mir. Das Wasser ging mir mittlerweile bis zur Hüfte. Der See war so klar, dass ich den Grund sehen konnte. Es war ein schönes Gefühl den Sand unter meinen Füßen zu spüren.

Runa tauchte vor mir auf und sah mich kopfschüttelnd an. »Dann probier dein Selbstexperiment mal aus«, raunte sie. Schüchtern musterte ich ihren Körper. Wäre ich doch nur etwas älter.

Sie begutachtete meine blutige Handfläche, die ich immer noch nicht in das Gewässer gehalten hatte.

»Worauf wartest du?« Sie warf mir ein Lächeln zu.

Ich seufzte und tauchte meine Hand in den See. Das Wasser verfärbte sich rot.

»Was fühlst du?«

»Es kribbelt etwas«, antwortete ich.

»Schau mich an.« Sie legte eine Hand auf meine Schulter. Ich starrte in ihre Augen. Mein Blick verlor sich in ihrem Gesicht. Ein paar nasse schwarze Haarsträhnen klebten ihr auf der Stirn. Ihre blasse Haut glänzte. Alles um mich herum verschwand.

»Wie geht es deiner Verletzung?«, hauchte sie.

Ich senkte meinen Kopf und hob meine Hand aus dem Wasser. »Ach du Scheiße!« Die Wunde war verschwunden. Kein Blut. Kein Schnitt. Meine Hand sah aus wie immer.

»Wie... wie ist das möglich?«, stammelte ich. Fassungslos drehte ich meine Hand hin und her.

»Du bist voller Reinheit.« Runa wischte mir ein paar Haare aus dem Gesicht. »Du kannst der neue Waldprinz werden.« 

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