39. Drachentheater [2]

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Im nächsten Moment bemerkte sie Nori in seiner Zwitter-Gestalt irgendwo zwischen Mensch und Drache. Sie erinnerte sich wieder daran, was Kamilla gesagt hatte. Suchend blickte sie sich um und entdeckte eine besonders prächtig verzierte Schatulle, die sich fast in ihrer Reichweite befand. »Kilian«, zischte sie.

Der falsche Baron beugte sich über sie. Seine Knochen-Fratze lächelte gnädig. »Was hast du, Emma?«

»Tut mir echt leid«, erwiderte Emma, packte seinen Kopf und stach ihm mit beiden Daumen in sein verbliebenes Auge, so wie sie es bei einem Schul-Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Als er daraufhin einen Schmerzenslaut von sich gab und sich halb aufrichtete, zog sie die Knie an und trat ihm fest in den Schritt. Dann wand sie sich unter ihm hervor und packte die goldene Schatulle. »Nori!«, rief sie und wedelte mit dem Schmuckstück. »Komm hierher!«

Noris hielt inne. Sein Kopf zuckte und seine Nasenflügel bebten wie bei einem Hund, der Witterung aufgenommen hatte. Dann rannte er los und verwandelte sich vollständig in einen Drachen. Die Verwandlung verlief nicht so schrittweise wie bei Laurent. Stattdessen geschah es so plötzlich, dass man von einer Explosion sprechen konnte. Von einem Moment auf den anderen war die Halle von Schuppen, Klauen, Hörnern und ledrigen Flügeln erfüllt. Es war das erste Mal, dass Emma einen Drachen aus der Nähe zu Gesicht bekam. Trotz ihrer misslichen Lage war sie von seinem Anblick fasziniert. Noris Schuppenkleid schillerte fast so farbenprächtig wie das Gefieder eines Kolibris. Seine gelben Schlangenaugen waren von dunklen Wulsten umgeben, die fast wie Augenbrauen aussahen. Mit einem donnernden Gebrüll richtete er sich zu voller Größe auf und breitete seine gewaltigen Schwingen aus.

»Na los, komm her! Hol's dir!«, rief Emma und schleuderte die Schatulle nach Miragel.

Nori kreischte und trampelte los. Der Elf versuchte, ihn mit seiner Magie auf Abstand zu halten, aber seine Tricks wirkten nicht auf den Drachen. Ein gezielter Prankenhieb beförderte ihn durch eine Glaswand in eines der angrenzenden Büros und die Seelen-Kiste im hohen Bogen zum Ausgang. Kurz vor der rettenden Tür blieb sie liegen.

Emma gab einen Laut des Triumphs von sich, der in einen Schmerzensschrei überging, als Kilian ihren Kopf packte und gegen den Boden rammte.

»Jetzt ist aber mal Schluss«, kommentierte Derrick und fasste ihren rechten Arm. Kamilla nahm ihren linken Arm. Gemeinsam zerrten sie Emma auf die Beine. Blitze tanzten vor ihren Augen. Sie spürte Blut an ihrer Schläfe. Im Hintergrund konnte sie Nori toben hören.

»Gib einfach auf«, meinte Kamilla sanft, nahm ihre Hand und betrachtete den Countdown, der auf 5 stand. Beinahe abgelaufen.

Derrick seufzte und tastete mit der freien Hand nach seinem Flachmann. »Was für ein Tag.«

Emma spürte, dass ihre letzte Chance gekommen war. Sie schloss kurz die Augen, sammelte ihre verbliebenen Kräfte und trat dann Derrick so fest auf den Fuß, dass er einen Schrei ausstieß und seinen Flachmann fallen ließ. Die Flasche prallte am Boden ab und schlitterte davon. »Nori!«, brüllte Emma aus vollem Hals. »Nor-« Kamilla erstickte ihren Schrei mit der Hand, doch es war zu spät. Der Drache hatte das Aufblitzen des Flachmanns bemerkt und kam interessiert näher.

»Nicht!«, keuchte Kamilla und verstellte ihm den Weg.

Noris Pupillen verengten sich. Ein drohendes Knurren entwand sich seiner Brust, dann drang ein hellrotes Leuchten durch sein Schuppenkleid. Die Röte wanderte von seinem Bauch zu seiner Brust und seinen Hals hinauf bis zu seiner Kehle.

Kilian und Derrick ließen Emma los und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Es war jedoch absolut zwecklos. Ein Feuersturm brach aus dem Maul des Drachen und verwandelte ihre Umgebung in ein tosendes Inferno. Alles wurde von den Flammen dahingerafft. Über die hängenden Pflanzen breitete sich das Feuer in der ganzen Halle aus. Kilian, Derrick und Kamilla wälzten sich schreiend und lichterloh brennend am Boden. Emma sah zu, wie sie verbrannten. Erst dadurch wurde ihr bewusst, dass sie zwar die Hitze spüren und den Rauch riechen konnte, aber ansonsten vollkommen unbeschadet geblieben war. Verwundert betrachtete sie ihre unversehrten, aber heftig zitternden Hände. Der Countdown zeigte 2.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt