Emma war Zuhause. Das wusste sie mit unerschütterlicher Gewissheit, auch wenn bei näherer Betrachtung nur das rosa IKEA-Sofa, der alte Fernseher und der lautstark brummende Kühlschrank zur Einrichtung ihrer Wohnung gehörten. Der Rest war ein buntes Sammelsurium, das sich aus Gegenständen des Burgfräulein-Zimmers auf Schloss Baronstett und des Gästezimmers im Kloster Pax Angelus zusammensetzte. Trotzdem fühlte sie sich an diesem Ort wie Zuhause. Wo sonst konnte sie sich so herrlich auf dem Sofa lümmeln und mit der Fernbedienung durch das belanglose Fernsehprogramm zappen?
Aus den Augenwinkeln sah sie Kilian, der auf dem Eckteil des Sofas saß, die Beine angezogen, eine Lesebrille auf der Nase, und in einer Zeitschrift für Landschaftsgärtnerei blätterte. Emma wandte sich vom Fernseher ab und studierte sein geistesabwesendes Gesicht. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Er schien es zu bemerken, hob den Kopf und nahm seine Brille ab. Sie sahen sich verliebt in die Augen.
An dieser Stelle zerfaserte Emmas schöner Traum und verwandelte sich in einen Albtraum. Sie konnte buchstäblich sehen, wie sich Risse entlang der Wände ausbreiteten. Der Boden erbebte und Putz bröckelte von der Decke.
Kilian stand auf, griff hinter sich und zog einen langstieligen Vorschlaghammer aus einer Sofaritze. Seine Augen wurden groß und rot, wie die Augen eines Megamon, dann holte er aus und ließ den Hammer auf Emma nieder krachen. Sie spürte den Schmerz wie einen Blitz, der durch ihren Kopf fuhr. Vom folgenden Donner wurde sie aus dem Schlaf gerissen.
*
»Verflucht«, zischte Emma und presste sich eine Hand auf die Brust. Dadurch konnte sie spüren, wie ihr Herz raste. Dann erst bemerkte sie Kilian, der sich ebenfalls halb aufgerichtet hatte und schwer atmend in die Dunkelheit starrte, die nur vom wächsernen Mondlicht ein wenig aufgehellt wurde. »Hattest du etwa auch einen Albtraum?«, fragte sie.
Der Baron nickte. Sein nackter Oberkörper glänzte im Mondschein. Sie waren beide klatschnass geschwitzt – zum zweiten Mal in dieser Nacht. Emma schmunzelte. Die Erinnerung an ihr vergnügliches Abenteuer in der Horizontalen vertrieb den Schatten ihres Albtraums. Vom ersten Kuss zur ersten gemeinsamen Nacht in weniger als sechs Stunden; das war selbst für Emma ein Rekord. Mit einem anderen Mann hätte sie sich vielleicht Vorwürfe gemacht, weil sie sich mit dem Sex nicht mehr Zeit gelassen hatte, doch mit Kilian fühlte es sich irgendwie gut und richtig an. Nur eine Dusche, die brauchte sie jetzt dringend.
Vorsichtig schlug sie die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett, das viel zu schmal für sie beide war, sodass sie dazu gezwungen gewesen waren, in Löffelchen-Stellung zu schlafen. Es gab jedoch definitiv Schlimmeres als in Kilians Armen schlummern zu müssen.
Die Dielen knarzten, als sie sich aufrichtete und den Fußboden rund um das Bett nach ihrer Unterwäsche absuchte.
»Was hast du vor?«, fragte Kilian.
»Hier muss es doch irgendwo auch ein Badezimmer geben«, antwortete Emma, während sie ihren BH vom Bettpfosten angelte und ihre Unterhose aus dem Spalt unter dem Bett zog.
Kilian richtete sich ganz auf und rieb sich die Augen. »Hältst du das für eine gute Idee?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Emma. Schweiß und andere Körperflüssigkeiten waren im richtigen Kontext eine prima Sache, aber außerhalb dieses Kontexts eher unangenehm. Außerdem wollte sie die Gelegenheit nutzen, um ein wenig frische Luft zu schnappen und ihre Gedanken zu sortieren. Immerhin gab es viele Dinge, die jetzt anders waren als noch am gestrigen Abend. Viele Dinge, über die sie nachdenken musste.
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Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]
FantasyEmma und Kilian haben beschlossen, den Kampf gegen die Vogelmenschen aufzunehmen, um ihre gefallenen Freunde zu rächen und den König aller Welten zu retten. Doch der Weg in die oberen Sphären führt sie zunächst nach New York, wo sie sieben Hexenprüf...