Der Tempel des Allosfer war kreisrund wie das Kolosseum in Rom, wenn auch nicht ganz so hoch. Auch die Unterteilung der Fassade in verschiedene Ebenen und die vielen aufeinander gestapelten Rundbögen erinnerten an das Monument in der italienischen Hauptstadt, das Emma auf ihrer Abschlussfahrt besucht hatte. Anders als das Kolosseum war der Tempel des Allosfer jedoch gut erhalten. Auf dem flachen Dach erhob sich ein Obelisk mit pyramidenförmiger Spitze in den schwarzen Himmel. Im zuckenden Licht der Blitze warf er seinen langen, geraden Schatten mal hierhin, mal dorthin, wie ein Uhrzeiger, der im wahrsten Sinne des Wortes ausgetickt war.
»Die Vogelmenschen haben sich formiert«, berichtete Miragel im sachlichen Tonfall eines Fernsehmoderators, der über eine Krötenwanderung berichtete.
»Vielen Dank, Miragel, aber das sehe ich selbst«, erwiderte Derrick, während er den Mustang durch die Blumenrabatte hangabwärts lenkte. Der Weg durch die ordentlich getrimmten Hecken und planvoll angeordneten Beete war holprig. Die Scheinwerfer des Wagens hüpften auf und ab und verharrten kaum lange genug auf der Stelle, damit Emma ihre Umgebung erkennen konnte. Um einen besseren Blick auf ihre Verfolger erhaschen zu können, stützte sie sich mit einer Hand am Vordersitz ab und spähte durch die Heckscheibe in den Himmel. Wie Miragel gesagt hatte, hatten sich die überlebenden Vogelmenschen zusammengerauft und eine stabile Formation gebildet, die es mit den Blitz- und Wasserkanonen der Morgenwind aufnehmen wollte. Etwa auf Höhe des Palastes spaltete sich ein Teil der Formation ab und flog zur Stadt hinauf, während die restlichen Geflügelten wie ein Heuschreckenschwarm über die Parkanlage herfielen.
»Wir dürfen nicht zulassen, dass sie den Tempel vor uns erreichen«, sagte Umbraniel.
»Das wissen wir«, erwiderte Miragel mit erzwungener Ruhe, während er sich an den Sitz klammerte. Ihm war anzusehen, wie sehr er diese wilde Fahrt verabscheute.
Joseph lehnte sich weit aus dem Beifahrerfenster und richtete seine Waffe auf einen der Vogelmenschen, der zu ihnen aufgeholt hatte. Bevor er jedoch dazu kam, ihn mit einem gezielten Schuss vom Himmel zu pusten, wurde der Wagen von einem heftigen Schlag getroffen. Ein Geflügelter war auf dem Heck gelandet, klammerte sich mit seinen Krallen an den Spoiler und zertrümmerte mit seinen Flügeln die Heckscheibe. Stumpfe Glassplitter regneten auf Emma, Miragel und Umbraniel herab. Emma hob schützend einen Arm vor das Gesicht. Mit dem anderen Arm richtete sie die Nagelpistole auf ihren Angreifer und drückte dann ohne Hinzusehen ab. Ob sie traf, wusste sie daher nicht, aber das Rauschen gefiederter Schwingen signalisierte ihr, dass sich der Vogelmensch in die Luft erhoben hatte. Die stürmische Böe, die seine Schwingen beim Abheben verursachten, pustete Scherben und Splitter in Emmas Richtung. Sie kniff die Augen zusammen, duckte sich und rutschte dabei in den Spalt zwischen den Sitzen. Von dort aus konnte sie spüren und hören, wie sich Miragel über die Sitzbank warf, die Hand nach dem Vogelmenschen ausstreckte und ihm einen elfischen Zauber hinterher schleuderte.
»Es sind zu viele«, sagte Umbraniel im gleichen sachlichen Tonfall wie sein Sohn. »Wir können nicht gegen sie alle kämpfen.«
Als wollte er ihm widersprechen, kletterte Miragel auf die Rückbank und schleuderte Handzeichen in alle Richtungen. Die Vogelmenschen, die ihnen am nächsten waren, bekamen es dadurch mit Flammen und unberechenbaren Winden zu tun, was jedoch nicht dazu führte, dass sie ihre Verfolgung einstellten. Auch Josephs Bemühungen hatten lediglich einen vernachlässigbaren Effekt. Für jeden Vogelmenschen, der abstürzte oder abdrehen musste, schienen drei neue Verfolger nachzurücken.
Emma lehnte sich zwischen den Vordersitzen hindurch. »Wie weit ist es noch?«
»Wir sind gleich da«, antwortete Derrick. Der Mustang holperte über ein kreisrundes Blumenrabatt. Für einen kurzen Moment fiel das Licht der Scheinwerfer auf Azaleen und Hyazinthen, dann schnellten der Wagen und die Lichtpegel in die Luft. Die anschließende Landung war hart und Emma bildete sich ein, hören zu können, wie Unterboden und Karosserie des Fahrzeugs protestierten. Derrick fluchte unflätig. Ihm blieb jedoch keine Zeit, um sich zu ärgern. Schon musste er den Wagen um eine gestutzte Hecke in Form eines Einhorns herum manövrieren. In einiger Entfernung, aber noch viel zu weit weg, um Hoffnung in ihr aufkeimen zu lassen, konnte Emma die Lichter des Tempels erkennen.
DU LIEST GERADE
Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]
FantasíaEmma und Kilian haben beschlossen, den Kampf gegen die Vogelmenschen aufzunehmen, um ihre gefallenen Freunde zu rächen und den König aller Welten zu retten. Doch der Weg in die oberen Sphären führt sie zunächst nach New York, wo sie sieben Hexenprüf...