36. Der Hexenzirkel von New York [1]

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»Okay!«, gellte Derricks Stimme durch den hohen Tunnel, der sich ringförmig durch den Untergrund der Morgenwind zog. »Alle mal herhören! Ich habe keine Ahnung, wie das hier funktioniert! Also macht das Beste draus! Alles klar?«

Emma grinste und krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch. Irgendwo klatschte jemand höhnisch Beifall. Weil sich alle Bewohner der Stadt in die Steuernischen am Rand des Tunnels verzogen hatten, konnte Emma nicht sehen, wer, aber sie vermutete, dass es sich um Harrod handelte.

Die Steuernischen waren nicht mehr als enge Ausbuchtungen in der Tunnelwand, kaum groß genug, um sich darin um die eigene Achse zu drehen. Angeblich hatten sie irgendwas mit der manuellen Steuerung der Stadt zu tun, doch niemand wusste so genau, wie beides zusammenhing.

Emma betrachtete die kleine Beule, die etwa auf Schulterhöhe aus der Wand ragte wie eine Art Knopf oder Schalter. Nach langer Beratung hatten sie vereinbart, dass alle Bewohner gleichzeitig die Hände auf diese Beule legen sollten, in der vagen Hoffnung, dass dadurch irgendetwas, im wahrsten Sinne des Wortes Weltbewegendes passieren würde. Um alle Nischen zu füllen, hatten sogar die Kinder mithelfen müssen. Trotzdem wären sie beinahe gescheitert, hätte nicht Rasputin kurzentschlossen seinen Sohn in der letzten verbleibenden Nische auf Höhe der Beule festgebunden und ihm befohlen, Derricks Anweisungen zu befolgen. Emma wusste nicht, wie erfolgversprechend dieses Modell sein würde, aber da sie keine Wahl hatten, blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als auf Rasputin und Camio zu vertrauen.

»Okay!«,rief Derrick erneut. »Auf drei! Eins!«

Emma machte sich bereit.

»Zwei!«

Emma verbannte jeden Gedanken ans Scheitern aus ihrem Kopf. Sie mussten die Morgenwind in Bewegung versetzen, wenn sie New York erreichen wollten. Sonst würden sie einen weiteren Tag auf ihre Gelegenheit warten müssen. Und derzeit war jeder Tag, an dem nichts Schreckliches geschah, nur eine Leihgabe der Vogelmenschen.

»Und drei!«, brüllte Derrick. Die Kinder und auch einige der Erwachsenen stimmten in seinen martialischen Schrei mit ein. Emma begnügte sich damit, ihre Hände auf die Beule zu pressen. Anschließend wartete sie. Ihr Herz hüpfte in ihrer Brust herum, als wollte es sich einen Weg nach draußen bahnen.

Für einen unendlich langen Moment geschah überhaupt nichts. Dann ging ein Ruck durch den Rumpf der Stadt. Das Knarren und Ächzen, mit dem sie sich schwerfällig in Bewegung setzte, ging im kollektiven Jubelgebrüll unter. Überall um Emma herum sprangen die Bewohner aus ihren Nischen und eröffneten eine Spontan-Party im Untergrund.

Als sie sich zu ihnen gesellte, wurde sie sofort von Harrod angesprungen. »Wir haben es geschafft!«, rief er triumphierend. Seine Goldkettchen klimperten, als er vor Begeisterung im Kreis hüpfte und irgendeinen bizarren Zwergen-Freudentanz aufführte.

»Emma!« Kamilla fiel ihr um den Hals. »Es hat funktioniert.«

Emma erwiderte ihre Umarmung. Obwohl sie das Glück ihrer Freunde und der restlichen Stadtbewohner nachvollziehen konnte, fiel es ihr schwer, derart ausgelassen zu sein. Schließlich wusste sie, dass sie in New York eine weitere, schwere Prüfung mit möglicherweise tragischem Ausgang erwartete.

Doch daran wollte jetzt niemand denken. Derrick fuhr mit der Minerva und einer alten Boombox durch den Tunnel, immer im Kreis, und spielte dabei Lieder von Queen und the Police. Anoushka zauberte einen nicht enden wollenden Konfetti-Regen, in dem die jüngeren Stadtbewohner zur Musik tanzen konnten. Penny und Finka ließen es dabei so richtig krachen. Emma glaubte nicht, dass sie an diesem Abend freiwillig ins Bett gehen würden. Aber auch Karel und Klarissa tanzten so ausgelassen, dass es sie mit einem wohligen Gefühl erfüllte.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt