47. Tod oder Leben [1]

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Der Flug durch das endlose, pechschwarze Nichts erschöpfte Emma derart, dass sie ihre Umgebung nur noch unregelmäßig und verschwommen wahrnahm. Vielleicht spielte auch ihr zunehmender Blutverlust eine Rolle. Jedenfalls schien sich ihr Bewusstsein immer wieder kurz zu verabschieden. Die Dunkelheit, die sie in diesen Momenten der Bewusstlosigkeit umfing, war nicht annähernd so finster wie die Dunkelheit, von der sie im Wachzustand umgeben war. Manchmal, wenn ihr die Augen zufielen, hatte sie das Gefühl, vielleicht war es auch eine verschwommene Erinnerung, dass sie sich auf dem Arm ihres Vaters befand. Er trug sie durch die Wohnung, alberte mit ihr herum und ahmte dabei die Propellergeräusche eines Hubschraubers nach. Fast war es Emma, als könnte sie sich selbst kichern und glucksen hören. Ein schales Echo aus einer Vergangenheit, das aus irgendeinem hinteren Winkel ihres Gehirns gekrochen kam, um sie zu quälen. Dann weckte sie der Schmerz in ihren Schultern wieder auf.

Emma wusste nicht, wie lange ihre Reise durch die Dunkelheit dauerte. Es hätten wenige Minuten, Stunden oder gar Tage sein können, auch wenn sie vermutete, dass es sich höchstens um eine Stunde handelte, weil der Blutverlust sie sonst vermutlich umgebracht hätte.

Schließlich brach die Finsternis vor ihnen auf und gab den Blick auf ein blendend helles Licht frei. Automatisch kniff Emma die Augen zusammen. Der Lichtschein wurde schwächer, je näher sie der Sphäre und der darin verborgenen Welt kamen.

Als sie in die fremde Welt eintauchten, wurden sie von stürmischen Böen und unzähligen Vogelmenschen in Empfang genommen. Obwohl sich ihr Kopf wie ein nasser Schwamm anfühlte und sie ihre Umgebung nur wie durch Milchglas wahrnehmen konnte, erkannte Emma die schwarzen Geschöpfe, die auf ausgebreiteten Schwingen Kreise über dem Schloss des Königs aller Welten zogen.

Und was für ein Schloss das war! Eine silberne Festung, die im Innern eines riesigen Kraters lag. Wasser strömte kaskadenartig über die Felswände des Steinkessels und sammelte sich in einem türkisfarbenen See, der das Schloss umgab. Während die Spitzen der Felsen schneebedeckt und die Hänge zwischen den Wasserfällen herbstlich eingefärbt waren, schien rund um das Schloss Hochsommer zu herrschen. Wundervolle Gärten, die in allen Farben der Natur erstrahlten, umschlossen die Gebäude der weitläufigen Palastanlage. Zahlreiche Türme mit glänzenden Pagoden- oder Kuppeldächer ragten aus dem Grün und waren über Bögen oder Brücken miteinander verbunden. In Emmas verschwommener Wahrnehmung schien der ganze Palast ein einziges, verschlungenes Netz mit Knoten und Verbindungen zu sein, so wie die Sphären selbst.

Noch ehe sie diesen flüchtigen Eindruck korrigieren konnte, setzte der Vogelmensch, der sie gepackt hatte, zur Landung an und schleuderte sie auf den Weg, der zum Palasttor führte. Emma rollte über die Pflastersteine bis zum Rand einer langen Treppe, die hinunter zum See reichte.

Betäubt vor Schmerz blieb sie liegen und betrachtete die fremdartigen Bäume, die ihre Schatten auf den Weg warfen. Der Schmerz brannte in ihren Schultern und breitete sich zu ihrem Herzen aus. Ihre Extremitäten kribbelten und sie spürte eine innere Kälte, die kein gutes Zeichen sein konnte. Längst waren ihre Glieder viel zu schwach, um sie aus der verkrampften Haltung, die sie während des langen Flugs eingenommen hatten, zu lösen. Sie war nicht viel mehr als ein Bündel aus rohen Nervenenden, das von einem trägen und äußerst löchrigen Bewusstsein zusammengehalten wurde.

Der Vogelmensch landete neben ihr. Sie sah seine Krallen, an denen ihr eigenes Blut klebte. Er bückte sich und zerrte sie mit seinen grässlichen dreifingerigen Händen auf die Beine, doch Emma war viel zu kraftlos, um zu stehen oder gar zu laufen. Ihre Knie gaben sofort wieder nach; sie knickte ein und stürzte zu Boden. Dabei hatte sie nicht einmal mehr die Kraft, sich abzufangen, und knallte ungeschützt mit dem Kinn auf das Straßenpflaster. Der Schmerz des Aufpralls mischte sich mit der Pein, die ihre Schulterpartie umklammert hielt. Schwärze griff nach ihrem Bewusstsein und wollte es zum wiederholten Mal hinwegspülen, aber der Vogelmensch kam ihr zuvor, packte Emma erneut und warf sie sich kurzerhand wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter. Ihren Körper mit einem Arm stabilisierend, machte er sich auf den Weg zum spitz zulaufenden Schlossportal. Emma sah jedoch nur die ockerfarbenen Pflastersteine und ihr eigenes Blut, das eine lange, leuchtend rote Tropf-Spur darauf hinterließ.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt