43. Kampf der Geflügelten [2]

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Kurz darauf brachen die sechs Krieger auf und verteilten sich in der Stadt. Derweil war über ihnen am Himmel eine beinahe lautlose Schlacht zwischen Licht und Schatten entbrannt. Angetrieben von rechtschaffenem Zorn stürzten sich die Engel auf die Vogelmenschen, die ihnen zwar zahlenmäßig überlegen waren, aber nicht, was die Kampfkraft anbelangte. Die geflügelten Angreifer waren kleiner und wendiger, doch das glichen die geflügelten Verteidiger mit ihrer größeren Vielseitigkeit wieder aus. Während sich die Vogelmenschen nur mit Krallen und Flügelkanten zur Wehr setzen konnten, hatten die Engel zwei zusätzliche Arme und noch dazu verzauberte Waffen, die jedes Material mit Leichtigkeit zerteilten. Trotzdem gelang es einigen Vogelmenschen, dem Ansturm der Engel zu entwischen. Sie näherten sich dem Kloster im Sturzflug, wurden aber kurz bevor sie den Boden erreichten, von Anoushkas magischen Blitzen und Rasputins Flammen eingehüllt.

»Kommt rein«, sagte Derrick und scheuchte Emma, Layla, Titus und Kamilla ins Innere des Gasthauses. Dann verriegelte er die Tür.

Emma blickte sich in dem kleinen Gemeinschaftsraum um, der genauso spartanisch eingerichtet war wie die einzelnen Gästezimmer. Zwei Holztische mit vier dazugehörigen Bänken, blasse Landschaftsmalereien an den Wänden und ein Kruzifix über dem Treppenaufgang.

Neben Klarissa, Sebastian, Nori, Lusine, Harrod und Titus waren auch noch einige andere Bewohner der Morgenwind und ihre Kinder anwesend, von denen Emma die Meisten jedoch nur flüchtig kannte. Penny, Finka und Jonas hatten sich um Joseph geschart, der sie zu beruhigen versuchte. Besonders Finka schien der bloße Gedanke an Vogelmenschen große Furcht einzujagen. Sie weinte und wimmerte als hätte sie physische Schmerzen.

»Und was tun wir jetzt?«, fragte Layla, während sie die Handtasche öffnete, die sie über der Schulter trug, und eine kleine Handfeuerwaffe herauszog.

Derricks Blick wurde kurz von der Waffe angezogen, dann kehrte er zu ihrem Gesicht zurück. »Du hast dir meinen Rat also zu Herzen genommen.«

»Mache ich doch immer«, erwiderte Layla lächelnd und ging zu einem der Fenster, um Ausschau nach Angreifern zu halten.

Die Gefahr lauerte jedoch nicht vor dem Haus, sondern landete kurz darauf mit einem Krachen auf dem Dach. Das Gebälk über ihnen ächzte und stöhnte. Joseph befreite sich aus der Umklammerung seiner Kinder und gab Derrick mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er im oberen Stockwerk nach dem Rechten sehen wollte. Layla und Derrick nickten unisono und schlossen sich ihm an.

Emma blieb am unteren Ende der Treppe zurück und lauschte angestrengt. Doch statt eines Vogelmenschen, vernahm sie Kamillas entsetztes Keuchen. Das Geräusch ließ sie herumfahren. Fast schon vermutete sie, dass sich ein Megamon oder ein Geflügelter irgendwie Zugang zum Gebäude verschafft hätte, aber das war nicht der Fall. Trotzdem hatte Kamilla die Hände vor das Gesicht geschlagen und die Augen weit aufgerissen.

»Was ist?«, fragte Klarissa besorgt.

»Camio!«, keuchte Kamilla. »Wo ist Camio?« Mit diesen gehetzt klingenden Worten rannte sie los, durch den Korridor, der vom Gemeinschaftsraum abzweigte, zu den Gästezimmern des Erdgeschosses. Emma und Klarissa folgten ihr.

»Wo war er denn zuletzt?«, fragte Emma, die sich keine Panik erlauben wollte.

»Er hat bei mir im Zimmer geschlafen«, antwortete Kamilla mit schriller Stimme. »Als ich aufgewacht bin, wurde mir schlecht. Ich erinnere mich nicht, ob er zu dem Zeitpunkt noch da war.« Sie verschwand in einem der Zimmer, nur, um gleich darauf mit leeren Händen zurückzukehren. Ihr Gesicht war sogar noch bleicher als zuvor. »Er ist nicht mehr da!«

»Dann müssen wir ihn suchen«, entschied Emma. »Ich meine, er ist ein Kleinkind. Wie weit kann er schon gekommen sein?«

»Er ist ein Wechselbalg«, korrigierte Kamilla. »Und er kann ganz schön flink sein, wenn er das will.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt