Epilog: Die Frau von Morgen

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»Die Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege erfolgt nach den Bestimmungen des Krankenpflegegesetzes (KrPfG) vom 16. Juli 2003 und der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für...«, las Emma, übersprang die nächsten Worte und fuhr dann fort: »Die Ausbildung dauert drei Jahre und gliedert sich in einen theoretischen Teil mit insgesamt 2100 Stunden und einen praktischen Teil mit insgesamt 2500 Stunden.«

»Und du bist dir sicher, dass du das machen willst?«, fragte Derrick, während er auf den Fluss hinaussah, der sich rauschend und schäumend über ein Stauwehr wälzte.

Emma ließ ihr Handy sinken und blinzelte in das weiche Licht der späten Septembersonne. »Ja, ich denke schon.« Sie schirmte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne ab, um ein Kanu mit zwei Insassen zu beobachten, das auf die Bootsgasse an der Seite des Stauwehrs zusteuerte. Die Strömung in dem schmalen Kanal war schneller als die meisten Kanuten erwarteten, sodass es an dieser Stelle immer mal wieder zu lustig anzusehenden, aber zum Glück nicht besonders gefährlichen Unfällen kam. »Kilian und ich haben darüber gesprochen«, fuhr Emma fort. »Wir finden beide, dass ich noch ein Leben außerhalb der Morgenwind haben sollte.«

Derrick nickte. »Das ist bestimmt eine gute Idee. Aber wieso ausgerechnet Krankenschwester?«

Emma zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es auch nicht. Vielleicht, weil ich erkannt habe, dass es mir Spaß macht, mich um andere Menschen zu kümmern, Wunden zu versorgen und sowas.« Sie zog ihre Handtasche heran und kramte darin bis sie ihre Sonnenbrille fand, die in einer geblümten Schatulle steckte. »Und für ein Medizinstudium ist mein NC ganz einfach zu schlecht.«

»Anoushka oder Rasputin könnten sich darum kümmern«, wandte Derrick ein.

Emma lachte unecht. »Du meinst, so, wie sie sich um die Sache mit der Polizei gekümmert haben?«

Allein an die Wochen nach ihrer Rückkehr aus den oberen Sphären zu denken, war schon schmerzhaft. Zwar waren sie, wie erhofft, noch zu Lebzeiten ihrer Familien zur unteren Welt zurückgekehrt, aber nicht mehr rechtzeitig genug, um Schaden zu verhindern.

Etwa ein halbes Jahr vor ihrer Rückkehr im Juni, ziemlich genau am Tag nach Silvester, hatte Emmas Mutter eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgegeben. Schon zwei Tage früher hatte ihre Chefin Anzeige gegen unbekannt erstattet, nachdem ihren Angestellten das Chaos in der Boutique aufgefallen war. Die Beamten hatten nicht lange gebraucht, um eine Verbindung zwischen den beiden Vorfällen herzustellen - schließlich war Emmas Handtasche, inklusive Portemonnaie und Handy, in der verwüsteten Boutique sichergestellt worden. Daraufhin war Emmas Verschwinden als mögliches Verbrechen eingestuft worden. Wochenlang hatte man intensiv nach ihr gesucht, in Wäldern, Feldern, Flüssen und Teichen. Sogar im Fernsehen war über ihren Fall berichtet worden. Mysteriöses Verschwinden einer jungen Verkäuferin. Wo ist das Frankfurter Aschenputtel?, hatte die BILD am zweiten Februar getitelt. Als Aschenputtel hatte man sie bezeichnet, weil die Boutique ihrer Chefin Cinderella Store hieß.

Kurzum, es war nicht einfach gewesen, ihrer Familie, der Polizei und der Öffentlichkeit eine plausible Erklärung für ihr Verschwinden zu liefern. Anoushka hatte ihren Einfluss – oder vielmehr: ihre Magie – spielen lassen, um die Strafverfolgungsbehörden zu besänftigen, aber die anderen Parteien waren deutlich schwerer zu beeinflussen gewesen. Letztendlich hatte Emma überall erzählt, sie wäre Hals über Kopf mit einem fremden Mann nach Australien durchgebrannt. Zu ihrem Entsetzen hatten sich die Medien wie Aasgeier auf diese Geschichte gestürzt. Titel wie Wer ist Aschenputtels mysteriöser Prinz? hatten tagelang einschlägige Zeitschriften geziert und ihr Leben in einen Spießrutenlauf verwandelt. Manche Klatschblätter hatten sie mit Spott und Häme überzogen, andere hatten ihr durch die Blume selbstherrlichen Egozentrismus bescheinigt und ihr vorgeworfen, die ganze Sache nur wegen des Medienrummels inszeniert zu haben.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt