38. Die sieben Prüfungen II [2]

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»Jemand muss hierbleiben und das Tau festhalten bis der Rest der Gruppe auf der anderen Seite ist«, sagte Miragel.

»Ich kann das machen«, bot Kamilla an.

»Mach dich nicht lächerlich«, erwiderte Kilian, packte das Seil und spannte es probehalber.

Emma schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Du wirst nicht hier bleiben.« Sie senkte ihre Stimme. »Die Ameisen. Schon vergessen?«

»Nein«, meinte Kilian und entfernte lächelnd ein zappelndes Insekt von ihrer Wange. »Ich bin nicht dumm. Sieben Prüfungen. Sieben Herausforderer. Jeder von uns wird noch dazu aufgefordert sein, seine Opferbereitschaft unter Beweis zu stellen. Aber jetzt bin ich an der Reihe.« Er zuckte zusammen und schüttelte sein Bein aus, um einige Ameisen loszuwerden, dann wandte er sich an seine Schwester: »Geht. Nehmt Emma mit. Ich komme schon zurecht.«

Ein scharfer Schmerz fuhr durch Emmas linken Unterarm. Sie schnippte die dafür verantwortliche Ameise ins Unterholz. »Kilian... ich kann nicht ohne dich weitergehen.«

Der Baron packte das Tau mit beiden Händen. »Doch. Das kannst du.«

Emma schluckte hart. Sie wollte gar nicht daran denken, was für einen schmerzhaften Tod Kilian erleiden musste, wenn er hier zurückblieb.

Kamilla klopfte ihrem Bruder auf die Schulter und machte sich auf den Weg über die Brücke.

»Los jetzt«, sagte Kilian mit heiserer Stimme, während er das Seil spannte, damit seine Schwester nicht abstürzte. Sein Gesicht zuckte. »Emma. Bitte.«

»Schon gut«, meinte Emma, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Wir sehen uns wieder«, flüsterte sie. »Und dann werden wir uns richtig küssen. Selbst wenn das bedeutet, dass ich Miragel vorher erschlagen muss.«

Kilian schmunzelte, doch in seinen hübschen blauen Augen flackerte der Schmerz. »Ich freue mich schon jetzt darauf, dich wiederzusehen. Und jetzt geh, bevor ich es mir anders überlege.«

Schweren Herzens wandte sich Emma ab und folgte Miragel auf die Brücke. Nach einigen Metern drehte sie sich jedoch noch einmal nach dem Baron um. Er musste seine ganze Kraft aufwenden, um die Brücke in Balance zu halten. Dadurch blieb ihm keine Möglichkeit, sich gegen die Ameisen zu wehren, die ihn langsam auffraßen. Seine Beine waren bereits bis zur Hüfte von wuselnden schwarzen Leibern bedeckt. Es würde nicht mehr lange dauern bis sie sich zu seinen lebenswichtigen Organen vorgearbeitet hatten. Trotz der Schmerzen, die er leiden musste, hielt Kilian stand. Und Emma würde das Gleiche tun. So sehr es sie auch zerriss. Doch eines wusste sie jedoch mit unumstößlicher Gewissheit: sollte dieses Drama kein gutes Ende nehmen und sie dazu gezwungen sein, ohne Rasputin, Derrick, Nori und Kilian zur Morgenwind zurückzukehren, würde sie sich nicht länger zusammenreißen können. Und Emma hatte keine Ahnung, was dann geschehen würde.

Während sie und ihre zwei verbliebenen Mitstreiter die Schlucht überquerten, sprach niemand von ihnen ein Wort. Auch nicht, als sie die Tür auf der anderen Seite erreichten und die Brücke hinter ihnen zusammenbrach. Stumm setzten sie ihren Weg fort, in die fünfte der sieben Prüfungen.



*



Auf der anderen Seite der Tür erwartete sie ein Kinderzimmer. Der Szenarienwechsel kam so überraschend, dass Emma kurz ins Taumeln geriet. Ihr Blick wanderte über die Luftballon-Tapete, die Bauklötze, Spielzeugautos, Puppen und Kuscheltiere bis zu dem weißen Kinderbett, das genau zwischen ihnen und ihrem Ziel auf der anderen Seite des Zimmers stand. Der Betthimmel bestand aus einem zarten Organza-Stoff und kräuselte sich im seichten Windzug, der durch die halb geöffneten Fenster hereinwehte. Emma sah auf ihre Hand. Der Countdown zeigte 50. Mehr als genug Zeit für die kurze Distanz. Doch natürlich konnte es nicht so einfach sein.

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt