Emma zappte durch das Fernsehprogramm, um sich zu entspannen. Ihre schmerzenden Beine hatte sie auf dem gläsernen Couchtisch platziert, den ihre Mutter ihr angedreht hatte, weil sie ihn potthässlich fand. Das klobige Ding bot auch tatsächlich einen grauenhaften Anblick, aber wenn man es mit einem Tuch abdeckte, tat es seinen Dienst genauso gut wie jeder andere Tisch. Emma hatte einfach nicht genug Geld, um wählerisch zu sein. Außerdem benötigte sie keinen schnöden Popanz, solange nur Kilian in ihrer Nähe war.
Sie spähte zur Sofaecke, wo der Baron in eine Zeitschrift für Landschaftsdesign und Gartenbau vertieft war. Mit der Lesebrille auf der Nase sah er einige Jahre älter aus als sonst, aber das machte ihn nicht weniger attraktiv. Jedenfalls nicht in Emmas Augen. Sie lächelte ihm zu. Er schien es irgendwie zu bemerken, blickte auf und erwiderte ihr Lächeln.
Dann zerbrach der Traum, genau wie beim letzten Mal. Die Wände bekamen Risse und Staub rieselte von der Decke. Kilian stand auf und griff nach dem Vorschlaghammer. Bevor er jedoch damit ausholen und zuschlagen konnte, trat von hinten eine Frau an seine Seite. Eine Frau mit einer Haut aus flüssigem Kupfer, mit drahtigen Haaren, die ihr wirr vom Kopf abstanden, und Augen, die wie orangefarbene Fahrradreflektoren glänzten. Sie legte ihre metallische Hand auf Kilians Arm und sofort schien er sich zu beruhigen. Zögernd ließ er den Hammer sinken und setzte sich wieder auf das Sofa. Das rote Glühen in seinem Blick verschwand und das verliebte Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück, als wäre überhaupt nichts geschehen.
Emma musterte die kupferfarbene Frau. Sie waren sich bereits einmal begegnet, aber Emma wusste nicht mehr, in welchem Zusammenhang.
»Schlaf«, sagte die Frau. »Und lass mich über deine Träume wachen.«
Emma gehorchte der Aufforderung und wandte sich wieder dem Fernseher zu.
*
»Emma... Emma?«, drang es undeutlich durch die nebelartigen Ausläufer ihres Traums. Sanft lockten sie die Worte in die Realität zurück.
»Emma?«
Emma schlug die Augen auf und blinzelte in das Licht der Öllampe, die Kilian auf dem Nachttisch abgestellt hatte. Mit einer Hand zog er den purpurfarbenen Betthimmel zurück, mit der anderen Hand streichelte er ihr zärtlich über die zerzausten Haare. »Aufwachen. Es ist soweit. Oder willst du nicht mitkommen?«
»Mit? Wohin?«, murmelte Emma verschlafen.
Kilian schmunzelte, beugte sich vor und küsste sie auf die Nasenspitze. »Zum Sternenzähler, meine Liebste. Wohin sonst?«
»Ach ja. Natürlich will ich mitkommen!«, erinnerte sich Emma und setzte sich ruckartig auf. Sofort machte sich ihr Muskelkater bemerkbar. Sie stöhnte leise und kam sich vor wie eine alte Frau, die zu lange im Garten gearbeitet hatte. Schwerfällig kletterte sie aus dem Bett.
Kilian war schlau genug, ihr Ächzen und ihre abgehackten Bewegungen nicht zu kommentieren. Stattdessen half er ihr aus dem Nachthemd und in ihre Reitkleidung. Er selbst schien die ganze Zeit über wach gewesen zu sein. Entweder hatte er noch trainiert oder sich mit Miragel und der Prinzessin beraten, wie er es oft nach Sonnenuntergang noch tat. Emma wusste nicht genau, um was es bei diesen späten Besprechungen ging, und sie wollte sich auch nicht ungefragt einmischen. Das war ihr Zugeständnis an Miragel, den obersten Berater des Barons von Morgen.
»Du reitest mit mir«, sagte Kilian, während Emma ihre Weste zuknöpfte. »Tulpe hat sich heute schon genug verausgabt.«
»Wie du meinst«, erwiderte Emma gähnend. Sie wunderte sich über sich selbst. Noch vor ein paar Wochen war es ihr nicht schwer gefallen, tagsüber zu arbeiten und die Nächte durchzutanzen. In gewisser Weise hatte sie sich nachts stets wacher und lebendiger gefühlt als während ihrer eintönigen Schichten in der Boutique. Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang gehört die Welt uns, hatte ihre beste Freundin immer gesagt – und das, obwohl sie einen spannenden und kreativen Job als Grafikdesignerin ausübte, nach dem sich viele junge Menschen die Finger geleckt hätten. Dabei war es gar nicht so, dass Emma ihren Job nicht mochte. Sie war, von einigen wenigen Ausnahmen mal abgesehen, gerne mit ihren Kundinnen zusammen und genoss es, ihnen beim Auswählen von Kleidung behilflich sein zu können. Was sie störte, war die Monotonie, und natürlich dieses Gefühl, dass es da noch etwas Anderes gab, das auf sie wartete. Etwas Größeres und Bedeutsameres.
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Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]
FantasyEmma und Kilian haben beschlossen, den Kampf gegen die Vogelmenschen aufzunehmen, um ihre gefallenen Freunde zu rächen und den König aller Welten zu retten. Doch der Weg in die oberen Sphären führt sie zunächst nach New York, wo sie sieben Hexenprüf...