50. Animus ex Machina [1]

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Die Seelen der beiden Vogelmenschen, die sich vor der Tür positioniert hatten, schimmerten und flimmerten wie zwei Suchscheinwerfer, die sich durch dichten Nebel kämpften. Emma konnte sehen, wie sie das Holz der Tür durchdrangen. Aber vielleicht waren es auch ihre eigenen Augen, die sich nicht länger von ein wenig simpler Materie aufhalten ließen. Rasputins Kräfte hatten ihr ganz offenbar nicht nur Macht über das Feuer verliehen, sondern auch noch einige andere Veränderungen in ihrem Körper bewirkt. Eine davon war, dass ihr beim Anblick der beiden Lichter das Wasser im Mund zusammenlief.

»Hallo?«, polterte Rasputin und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Ich bin satt!«

Emma machte eine kurbelnde Handbewegung, um ihn zum Weitersprechen zu bewegen.

Der Dämon rollte genervt mit den Augen. »Und ich verlange, den Kaiser zu sprechen. Es geht um die Morgenwind. Unter Umständen bin ich doch befugt, etwas auszuhandeln.«

Anhand der Lichter konnte Emma erkennen, dass die Vogelmenschen auf seine Worte aufmerksam geworden waren. Sie wandten sich erst einander, dann der Tür zu. Im nächsten Moment ertönte das Geräusch eines Schlüssels, der in ein Schloss gesteckt wurde.

Emma nahm dieses Signal zum Anlass, um den Kopf ins Kissen sinken zu lassen und rasch die Decke über ihren Körper zu richten, sodass es so aussah, als wäre Rasputin im Bett über sie hergefallen. Die seidigen Laken bestanden aus einem dünnen und leicht brennbaren Stoff, der beinahe sofort zu kokeln begann, wenn sie ihn berührte. Um zu verhindern, dass die Vogelmenschen Wind von ihren neuen Kräften bekamen, ballte sie die Hände zu Fäusten. Auf diese Weise schien sich die Hitze nicht weiter auszubreiten. Allerdings konnte sie das Feuer in sich wüten spüren. Es fühlte sich an, als wäre sie ein brennendes Fass, voll mit Zunder und Benzin, bereit, bei der nächstbesten Gelegenheit in die Luft zu gehen. Sie fragte sich, ob sich Natascha Sorokin so ähnlich gefühlt hatte. Vermutlich nicht, dachte sie. Immerhin hatte das Mädchen noch deutlich mehr Kräfte von Rasputin erhalten als Emma. Sie mochte sich nicht einmal ausmalen, wie es gewesen sein musste, plötzlich eine solche Kraft in sich zu spüren.

»Du willst also den Kaiser sprechen?«, hörte sie einen der beiden Vogelmenschen fragen.

»So ist es«, antwortete Rasputin, der seine Rolle noch nicht ganz verinnerlicht hatte und eher verärgert als unterwürfig klang. »Ich werde ihm sagen, wo er die Reliquien finden kann.«

»Und was mit der Sterblichen?«, fragte der andere Vogelmensch.

Emma konnte Rasputins Schulterzucken förmlich hören. »Ich habe ihre Seele genommen. Sie wird eine Weile brauchen, um sich davon wieder zu erholen, auch wenn sie nie wieder völlig die Gleiche sein wird.«

»So was kannst du?«, fragte der Vogelmensch, der zuerst gesprochen hatte. Keiner der beiden schien sich Sorgen wegen Rasputins Kräften zu machen. Vermutlich wussten sie gar nicht, wie die Übertragung dämonischer Kräfte funktionierte. Oder sie hatten ihrem General nicht sehr aufmerksam zugehört.

Obwohl sie auf diese Entwicklung gehofft hatte, erhöhte sich Emmas Puls, als einer der Vogelmenschen ans Bett trat, um sie zu mustern. Sie versteifte sich und ballte ihre Hände noch fester zusammen, so fest sogar, dass sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Handballen gruben.

»Sie sieht aus, als wäre sie tot«, meinte der Vogelmensch, während er sich über sie beugte. »Aber ich kann hören, dass sie noch atmet.«

»Natürlich atmet sie noch«, brummte Rasputin, während er sich streckte und leise die Tür ins Schloss drückte. »Wollt Ihr mich etwa beleidigen?«

Die Vogelmenschen lachten. »Nun, du bist ein Dämon«, spottete einer von ihnen. »Wenn sich nicht einmal die Sterblichen vor dir fürchten müssen...«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt