46. Verloren [1]

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»Siehst du das – schlurp?«, fragte der Sternenzähler, während er zwei seiner Bauchbeine dazu benutzte, sich Milch in den Kaffee zu kippen.

Emma spähte in das Okular des Refraktors, dessen breites oberes Ende aus dem Dach des Observatoriums in den Himmel über der Morgenwind ragte. Hinter der Atmosphäre-Kuppel der Morgenwind und den waldmeisterfarbenen Schlieren, die den Rand dieser Sphäre markierten, erkannte Emma eine hell leuchtende Sphärenkonstellation. »Ja, ich sehe es«, antwortete sie.

Der Sternenzähler betätigte eine schwergängige Kurbel, was ein System aus Scharnieren, Zahnrädern und Gewichten in Bewegung setzte, die den Refraktor neu ausrichteten. »Und jetzt?«

Eine weitere Konstellation tauchte im Objektiv des Refraktors auf. Drei zusammenhängende Lichter. Drei Sphären, die auf verschlungenen Wegen miteinander verbunden waren. Trotzdem hätte Emma die Lichter nicht mit der Karte im ersten Stock des Observatoriums in Verbindung bringen können. Für sie waren diese Lichter einfach nur Lichter. Sie konnte sie nicht voneinander unterscheiden, geschweige denn, sich an ihnen orientieren.

»Wie macht Ihr das?«, fragte Emma, während sie die steile Leiter hinunterkletterte.

Das oberste Stockwerk des Observatoriums versank in einem höchst wissenschaftlichen Chaos. Überall lagen Zeichnungen des Sphären-Netzes herum, versehen mit kryptischen Anmerkungen, die der Sternenzähler stets mit allen seinen Brust- und Bauchbeinen gleichzeitig verfasste.

»Eine angeborene Fähigkeit«, kicherte der Sternenzähler. Seine sechs schwarzen Augen zwinkerten ihr gutmütig zu. Dann reichte er ihr einen Brief in einem offenen Umschlag, der wie immer an Derrick adressiert war und die Koordinaten ihrer nächsten Ziel-Sphäre beinhaltete. Derrick würde die Koordinaten in Richtungsanweisungen umwandeln und Kilian würde sie an die Morgena übermitteln. Dieses Vorgehen war in den letzten zehn Wochen ein alltägliches und beinahe liebgewonnenes Prozedere geworden.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte der Sternenzähler und wurde schlagartig ernst. »Nicht mehr lange und – schlurp – wir erreichen den hellsten aller Sterne.«

»Macht Euch das Sorgen?«, fragte Emma. »Ich meine, wegen der bevorstehenden Schlacht?«

»Nein, nein«, kicherte der Sternenzähler. »Wenn es – schlurp – hart auf hart kommt, breite ich einfach meine – schlurp – Flügel aus und flattere – schlurp – davon.«

Emma zwang sich zu einem Lächeln. Sie wusste nicht, ob der Sternenzähler diese Worte wirklich ernst meinte. Vielleicht stimmte es, was Miragel gesagt hatte. Vielleicht verstand er einfach nicht, dass seine Zeit der Veränderung niemals kommen würde. Sie wusste jedoch nicht, wen sie mehr bedauert hätte: den Narren, der die Wahrheit nicht begreifen konnte, oder den traurigen Clown, der gute Miene zum bösen Spiel machte.

»Richte dem Baron meine – schlurp – Grüße aus«, sagte der Sternenzähler.

»Das werde ich«, erwiderte Emma und schwang sich auf die Leiter, die in die unteren Stockwerke führte.



*



Am Ausgang des Observatoriums vernahm Emma eine bekannte Stimme: »Ruhig Blut. Glaube an dich selbst. Glaube ist das Wichtigste.«

Verwundert blickte sich Emma nach dem Sprecher um, konnte aber niemanden entdecken.

»Glaube! Glaube! Glaube!«

Endlich merkte Emma, dass sich der Sprecher über ihr befinden musste. Sie legte den Kopf in den Nacken und umrundete das Observatorium, bis sie Titus entdeckte, der auf den schmalen Sims unterhalb der Kuppel geklettert war. »Titus! Was hast du vor?«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt