»Ihr habt das vorausgesehen?«, wiederholte Emma entgeistert. »Ihr habt damit gerechnet, dass ich euch verraten würde?«
»Wir mussten zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen«, erwiderte Rasputin.
Emma fühlte, wie ihr die Schamröte ins Gesicht stieg. »Denkt Kilian das auch?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Ja, das tut es!«, fauchte Emma, auch wenn sie sich dafür hasste, dass man ihr die Verletzlichkeit dadurch so deutlich anmerken konnte.
»Er denkt, dass Orel Erelis gerissen und grausam genug ist, um jeden Menschen zum Reden zu bringen. Und das denke ich im Übrigen auch. Es gibt nur wenige Wesen, die seinen Methoden widerstehen können.«
Rasputins Worte führten jedoch nicht dazu, dass Emma sich besser fühlte. Gedankenverloren wanderte sie durch das Zimmer und kam schließlich am Fenster zum Stehen. Das Rot des Himmels, das Grün der Pflanzen und das Blau des Wassers verschwammen vor ihren Augen wie ein verlaufendes Aquarellgemälde. Ihr Herz schlug ruhig, aber fest, als wollte es sich dadurch Gehör verschaffen. Es fiel Emma schwer zu ertragen, dass ihre Freunde so wenig Vertrauen in sie hatten, auch wenn sie selbst bereit gewesen war, Gift zu schlucken, um sich vom Reden abzuhalten.
In gewisser Weise erinnerte sie dieses Szenario an die Unterhaltungen, die sie manchmal mit ihrer Mutter führte. Aus irgendeinem Grund kam ihre Mutter nämlich einfach nicht darüber hinweg, dass sie sich während ihrer Schulzeit vorübergehend wie eine Querulantin verhalten hatte. Es spielte keine Rolle, wie oft sie sich um ihre Schwester gekümmert hatte, wie oft sie eingekauft, zum Amt oder ins Krankenhaus gefahren war, wie viele Telefonate mit Psychologen, Beratern und Betreuen sie geführt hatte, ihre Mutter war der festen Überzeugung, sie wäre eine unzuverlässige Person, der man nicht einmal einen Haustürschlüssel anvertrauen konnte. Du wirst ihn nur wieder verlieren, hatte ihre Mutter immer gesagt. Dabei hatte Emma, im Gegensatz zu ihrer Mutter, noch nie einen einzigen Schlüssel verloren. Und so ging das die ganze Zeit. Mach die Tür aber diesmal auch wirklich zu, ja? Bist du dir sicher, dass du den Herd ausgemacht hast? Du bist immer so schusselig. Willst du dir wirklich einen Computer kaufen? Du kannst damit doch gar nicht umgehen. Und wenn du jemandem aus Versehen dein Passwort verrätst? Emma schauderte vor Wut. Sie war alles andere als schusselig oder nachlässig. Und wenn Kilian das nicht verstand, verstand er vielleicht auch nicht, wie sie funktionierte.
Bevor sie sich in ihre negativen Gedanken hineinsteigern konnte, entdeckte sie einen Schwarm Geflügelter, die im Tiefflug gen Eingangstor zogen. Geschickt manövrierten sie um die vielen Türme und Rundbögen, die den Palast auszeichneten. Um besser hören und sehen zu können, öffnete Emma das Fenster und lehnte sich hinaus. Sofort spürte sie einen warmen Wind, der den Turm umwehte und den Geruch von Apfelblüten mit sich trug. Ein seltsames Raunen und Flüstern lag in der Luft, wie unzählige, miteinander vermischte Radioprogramme.
Emma verrenkte sich den Hals und bemerkte eine seltsam geformte Wolke, die sich in der Richtung gebildet hatte, aus der auch Rasputin gekommen war. Bedrohlich türmte sie sich auf, ein weißer Trichter, der vom Licht der untergehenden Sonne hellrot angestrahlt wurde. Immer mehr Vogelmenschen erhoben sich in den Himmel, wobei sie jedoch einen vorsichtigen Abstand zu der unheimlichen Wolkenformation einhielten.
»Es ist soweit«, meinte Rasputin vom Bett aus.
Emma wusste nicht, wovon er sprach, aber sie spürte die Spannung, die plötzlich in der Luft lag. Ein lautloses Knistern. Elektrostatik, die dafür sorgte, dass sich die feinen Haare an ihren Armen aufstellten. »Ist das die Morgenwind?«, fragte sie.
»Sieh hin«, antwortete Rasputin nur.
Etwas widerwillig befolgte Emma die Anweisung. Ein paar Minuten später brach tatsächlich die Morgenwind aus dem Wolkentrichter. Die Stadt sah prächtig aus, prächtiger noch als Emma sie in Erinnerung hatte. Ihr Unterbau wirkte nicht mehr wie das Nest eines wenig begabten Vogelmännchens und triefte auch nicht länger vor Rost und Moder, sondern war aufgeräumt, glatt und glänzend. Die Stadtmauer, die sich darüber erhob, strahlte Sicherheit und Stärke aus, auch wenn Emma wusste, wie trügerisch dieser Anschein war. Dahinter ragten die imposanten Türme von Schloss Baronstett auf, hohe Mauern aus glasierten Tonziegeln, die das Sonnenlicht förmlich aufzusaugen schienen. Der Anblick war wunderschön und entlockte Emma ein breites Lächeln. Ihre Freunde waren gekommen! Kilian war da! Nicht mehr lange und sie konnte ihn wieder in den Armen halten. Ihr Lächeln wurde grimmig. Aber zuerst würde die Morgenwind den Vogelmenschen ordentlich einheizen!
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Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 2]
FantasyEmma und Kilian haben beschlossen, den Kampf gegen die Vogelmenschen aufzunehmen, um ihre gefallenen Freunde zu rächen und den König aller Welten zu retten. Doch der Weg in die oberen Sphären führt sie zunächst nach New York, wo sie sieben Hexenprüf...