74 | Ich höre zu.

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Arthur holt tief Luft und scheint zu überlegen, wo er anfangen soll.

„Du weißt nicht, wo du anfangen sollst, oder?"

Er nickt beschämt und nimmt die warme Teetasse zwischen seine Hände.

„Soll ich Fragen stellen und du antwortest einfach?", schlage ich vor. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es sein muss, wenn man nicht weiß, wo man am besten beginnt.

„Okay", flüstert er.

Nun bin ich derjenige, der tief Luft holt und ich stelle die Frage, die mich am zweitmeisten beschäftigt: „Bist du wieder mit Corin zusammen?"

Arthur reißt seine Augen auf und starrt mich schockiert an, als hätte ich ihm gerade eine Ohrfeige gegeben.

Vielleicht ist diese Fragevariante doch nicht so schmerzfrei für uns beide, wie ich mir das eben noch erhofft hatte.

„Es ... das mit Corin ist kompliziert."

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen und ich spüre, wie die Enttäuschung wieder in meinem Bauch zusammenbrodelt. Ist das jetzt sein Ernst?

„Die Frage ist denkbar einfach zu beantworten. Ja oder nein?", erwidere ich eindringlich.

Arthur blickt in die Tasse zwischen seinen Händen, als würde er darin die Antwort finden können.
„Dann ... nein, schätze ich."

„Schätzt du?"

„Corin und ich waren zusammen", seufzt Arthur. „Vor einer Weile. Und als er mich letztens wiedersah, als wir beide Pizza essen waren, da–"

„Hat er sich wieder gemeldet", beende ich seinen Satz. „Ich war dabei."

Wow, diese Unterhaltung schmerzt mehr, als ich erahnen konnte, stelle ich fest.

Arthur stellt die Tasse mit dem ungetrunkenen Tee auf dem Tisch zwischen uns ab und reibt mit den Händen über sein Gesicht.
„So geht das nicht", sagt er energisch und ich runzle verwirrt die Stirn. „Du kennst nicht die ganze Geschichte. Corin war ... Corin war immer perfekt für mich."

Mein Gesicht ist wie versteinert, als Arthur diesen Satz sagt. Konnte er das Knacken in meiner Brust wohl hören? Ich hoffe, er hat es nicht gehört. Ich sitze ganz steif da und wage es nicht, mich zu bewegen, denn ich bin sicher, dass ich wie eine Statue aus Sandgestein einfach in Staub zerfallen werde, wenn ich es tue.

„Er ist sportlich und schlau und immer freundlich zu allen, er ist witzig und unternehmungslustig und hat immer auf alles eine Antwort", redet Arthur weiter.

Ich bin wie gefangen. Gefangen in meinem versteinerten Körper, der innerlich immer mehr aufzureißen droht, während ich Zeuge von einem Lobgesang auf den heiligen Corin werde.

Arthurs Blick fällt auf mich und anscheinend muss ich wirklich in Stein verwandelt worden sein, denn seine Augen weiten sich entsetzt und er hebt beschwichtigend die Hände.
„Lass mich bitte zu Ende reden, Felix", verlangt er.

Ich kann nur blinzeln. Wenn ich nicke, bricht mein Kopf einfach ab und fällt auf meinen Schoß.

„Ich ... ich hab meinen Job verloren. Damals, als wir zusammen waren", erklärt er. „Ich war in einer kleinen Firma, die überwiegend Handwerksbetriebe und auch mal Privathaushalte beraten hat. Leider hatte mein Chef ein Spielproblem und irgendwann konnte er unsere Löhne nicht mehr zahlen.
Zu der Zeit hat David gerade seine eigene Praxis eröffnet und Celia einen Antrag gemacht."

Ich erinnere mich, dass Tessa mir etwas darüber erzählt hat. Irgendetwas mit Arthurs Bruder. Ist David Arthurs Bruder?

„David ist mein Bruder", bestätigt Arthur meine Vermutung. „Ihm scheint immer alles zuzufallen und er erfüllt irgendwie immer die Erwartungen unserer Eltern oder übertrifft sie meistens sogar."

Ich kann noch immer nichts sagen, höre nur zu und hoffe, dass die Starre meinen Körper verlässt oder dass ich erst zerbröckele, wenn Arthur nicht mehr hier ist.

„Mein Dad sagte wieder einen seiner üblichen Sprüche", redet Arthur weiter. „Irgendwas darüber, dass es bei David doch auch klappt und ich mir mal ein Beispiel an ihm nehmen könnte und irgendwie warf mich das vollkommen aus der Bahn. Mir ging es ohnehin schon nicht gut und das gab mir den Rest.

Ich war nur noch zu Hause, lag im Bett oder auf dem Sofa und war vermutlich nicht der angenehmste Zeitgenosse. Und Corin ging jeden Tag zur Arbeit, machte Sport und Witze und wollte Dinge mit mir unternehmen und ich ... ich konnte einfach nicht. Ich war wie–"

„Erstarrt", drücke ich heraus.

Arthur nickt und schnieft leise.
„Er hat immer wieder auf mich eingeredet, wollte mich überreden und hat es einfach nicht verstanden, warum ich nichts tun wollte. Wir haben uns oft gestritten und es tat mir so leid, aber ich konnte einfach nichts tun. Ich war nur so kraftlos und leer und müde."

Er trinkt einen Schluck von seinem Tee, hält die Tasse wieder zwischen seinen Händen und presst seine Lippen fest aufeinander, ehe er weiterspricht: „Und irgendwann reichte es ihm wohl. Er meinte, ich könnte mich ja melden, wenn ich eine Therapie gemacht hätte und dann ist er gegangen. Und ich lag auf meinem Sofa und wusste, dass es meine Schuld war, dass er gegangen ist. Dass ich ihn nicht verdient habe, weil ich zu schwach war und er es nicht länger mit mir ausgehalten hat."

„Arthur", sage ich leise und bewege vorsichtig meinen Finger. Hitze durchströmt meinen Körper, scheint die einzelnen Brocken, aus denen ich bestehe, wieder zusammenzuschmelzen und mich förmlich glühen zu lassen.

Ich stelle fest, dass es Wut ist, die mich so glühen lässt. Wut auf Corin und sein Unverständnis.

Arthur schüttelt nur seinen Kopf, bedeutet mir damit, dass er noch nicht fertig ist mit seiner Erzählung.
„Er hat sich nicht mehr gemeldet. Er konnte einfach so gehen und mich zurücklassen und Gott, ging es mir beschissen. Tessa und Gary waren die Einzigen, mit denen ich noch geredet habe.

Irgendwann hatte Tessa zufällig den Auftrag für das Bürogebäude, in dem meine jetzige Firma nun ist und hat mir einen Vorstellungstermin besorgt. Ich hab mich zusammengepuzzelt und wieder gefangen, aber bin allein geblieben. Der Gedanke, wieder mit irgendjemandem zusammen zu sein, tat zu weh.
Und dann stehst plötzlich du vor meiner Tür."

Eine Träne rollt seine Wange hinab.

„Und du bist süß und witzig und ... so perfekt. Und für einen Moment habe ich geglaubt, dass jetzt alles gut für mich wird. Bis–"

„Du dachtest, du hättest es nicht verdient", schlussfolgere ich.

„Felix, ich ... ich bin ziemlich kaputt. Ich–"

„Du wolltest nicht, dass ich dich so sehe und dann auch gehe", verstehe ich ihn auf einmal. „Und jetzt bist du mit Corin–"

„Nein!", ruft er. „Er hat mich angerufen, weil ihm bei unserem Treffen klar wurde, dass er mich vermisst hat und dann trafen wir uns zufällig wieder, nachdem ich–"

„Zufällig", wiederhole ich abschätzig und würde am liebsten etwas zerstören. Bestenfalls etwas von Corin. Oder Corin selbst.

Arthur zuckt mit den Schultern.
„Ich schätze, ich habe mich an die schönen Zeiten mit ihm erinnert und wir haben uns getroffen und ..."

Ich kneife meine Augen zusammen und balle meine Hände zu Fäusten zusammen. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann, wenn Arthur weiterredet.

„Felix, ich konnte nur an dich denken", fährt er fort und ich öffne verblüfft meine Augen. „Ich habe mit ihm geredet, aber musste nur an dich denken. Er war nicht du und ich wollte einfach nur wissen, wo du bist, wie es dir geht, ob es dich überhaupt noch gibt. Dann hat Tessa mir gesagt, dass sie hier war und mit dir gesprochen hat und ich war mir sicher, dass ich das war. Dass ich alles kaputtgemacht habe, aber dass du zumindest ein Leben hast. Aber dann habe ich dich mit diesem Mann am Strand gesehen und das war so–"

„Falsch."

Arthur nickt und wischt mit seinen Fingern über seine feuchten Wangen.
„Corin und ich sind Geschichte", beendet Arthur seine Erzählung. „Tessa hat mich hergeschleift und sie hatte vollkommen recht. Wir beide sollten reden und du solltest die ganze Wahrheit kennen und das tust du jetzt."

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