Kapitel 40

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Fokussiert starre ich an die Decke und muss die Erkenntnis, dass Alec trotz seiner Grösse innerlich noch immer so klein und verloren ist, erstmal sacken lassen. 

Das Rauschen des heissen Wassers tönt dumpf durch die verschlossene Türe hindurch. Ich könnte jetzt ohne ein kompliziertes Prozedere aufstehen, die Badezimmertüre öffnen und zu Alec unter die Dusche hüpfen. Irgendwas hält mich davon ab. 

So schnell mein Blick in die besagte Richtung schwenkt, so schnell entgleitet er wieder. Ein Klingelton ertönt und nur am Rande nehme ich verschreckt wahr, dass es meiner ist. Das Lied geht mir auf die Nerven. Ich muss es heute noch ändern, ein neues Kapitel aufschlagen.

Mit müden Beinen stehe ich auf und gehe in die Richtung des störenden Klangs. Meine Glieder schmerzen. Ich habe eindeutig zu viel getrunken, zu wenig gegessen und zu lange geschlafen.

Meine Mutter. 

Ohne mir ein erstes Mal Gedanken darüber zu machen, drücke ich den grünen Hörer auf die rechte Seite und nehme ab. 

"Gott sei Dank!"

Sie spricht so wild und aufdringlich auf mich ein, dass ich keines ihrer Worte auffassen kann. 

"Mutter", sage ich mit fester Stimme. Ich bin von mir selber so überrascht, dass ich mir nicht mehr sicher bin, wer ich in den letzten Jahren war.

Stille entsteht, obwohl so viel zu erzählen wäre. Obwohl meine Mutter und ich uns doch so viel zu sagen hätten. Doch vielleicht ist das nur ein Wunsch von mir und die Erwartung von meinem früheren Ich. Die Vorstellung von mir als Kind, als ich noch in einem Märchen lebte. Vielleicht gibt es einfach nichts - mehr - zu sagen. 

"Wo warst du?", fragt mich meine Mutter ruhig, als wüsste sie bereits über jedes einzelne Detail Bescheid.

"Ich ..."

Was hält mich noch? Alles, was ich verlieren könnte, ist er.

"Ich habe einen Freund, Mom", sage ich, als wäre ich noch ein Teenager und würde meiner Mutter gerade von meiner ersten Liebe erzählen. Und vielleicht ist sie das auch. Meine erste grosse Liebe. Ich habe mich immer gefragt, ob es sie wirklich gibt und wie es sich wohl anfühlen würde.

Und jetzt - ja, es gibt sie, die grosse Liebe. Das Gefühl, welches einem auch in den desaströsten Situationen lächeln lässt. Einfach, weil sie da ist. 

 Ich selbst höre die Sanftmut in meiner Stimme, die für Alec spricht. Die Sanftmut, die er nie kennenlernen durfte. 

"Du hast ... Natürlich hast du einen Freund, Lucie." Ihre Stimme hört sich zugleich genervt, wütend und beruhigt an. Ich bin mir nicht sicher, welches davon überwiegt. 

Ich will schon für den nächsten Satz von der Luft schnappen, die von nun an mein neues Zuhause ist, doch meine Mutter lässt mich nicht so weit kommen.

"Wir waren krank vor Sorge! Wo zum Teufel bist du?" Es sind eindeutig ihre Nerven, die schon zu schwinden scheinen. Aber vielleicht hängt das auch mit dem kommenden Alter zusammen, was sie sich nicht eingestehen will. Auch wenn wir gerade dabei sind, werden wir auf keinen Fall über ihre natürlichen - wie sie es bezeichnet - Eingriffe sprechen. Das ist etwas, was ich bis zu meinem Lebensende verdrängen und hoffentlich vergessen werde.

"Bei meinem Freund."

Die Stille, über die wir beide die ganze Zeit über geschwiegen haben, erweckt wieder zum vollen Leben. Auch, als ihre Stimme wieder erklingt.

"Dein Freund ist bei mir, Lucie. Mike ist bei uns."

Unumgehbare Lust (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt