Kapitel 19

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"Nein!"

Sein Lachen lässt mein ganzer Körper vibrieren.

Ich möchte am liebsten im Boden versinken. Peinlicher hätte es nicht kommen können. Meine schlimmste Befürchtung ist wahr geworden.

"Naja, ich war eben neugierig."

"Oh mein Gott." Ich vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge.

"Du weisst gar nicht, wie sexy du aussahst", flüstert er mir ins Ohr und streicht mir eine Strähne dahinter. "Seit damals denke ich nur noch an dich."

Mein Kopf fühlt sich so heiss an, dass ich Angst habe, meine Wangen könnten verbrennen.

"Jetzt komm schon, ich bin's nur." Darauf antworte ich nichts, sondern gebe nur ein wimmerndes Geräusch von mir. Noch mehr Hitze steigt mir in die Wangen. Ich fühle sein Grinsen; trotzdem versucht er mich zu beruhigen, indem er meinen Arm streichelt, den ich um seinen Bauch geschlungen habe. Mittlerweile hat er sein T-Shirt auch ausgezogen, wenn auch eher unfreiwillig. Ich musste ihn fast dazu zwingen. Die Ausrede, dass es zu kalt ist, galt nicht mehr, da wir in die dicke Wolldecke - auch wenn sie etwas kratzig war -, welche sehr warm ist, eingewickelt sind.

Alec hat mir gerade verraten, dass er es gesehen hat. Und- Ich kann kaum darüber nachdenken. Dass er gesehen hat, wie ich mich selbst berührt habe.

Als ich meinen Kopf aus seiner Halsbeuge herausziehe und mein Kinn auf seiner Schulter abstütze, um ihn anzuschauen, strahlt mich direkt dieses unvergessliche Goldbraun an. Anfangs konnte ich sein Gesichtsausdruck nicht deuten, da er sehr ernst und verschlossen wirkt. Aber ich glaube, so ist er einfach. Gross, stark und doch auf irgend eine Weise zurückhaltend, obwohl er dies wohl nie zugeben würde.

"Was ist eigentlich mit deinem Freund?"

Die lockere Stimmung von eben verschwindet von einer Sekunde auf die andere und eine grosse Frage mit schlechtem Gewissen steht im Raum. Die Hitze, die von seinem Körper aus geht, erreicht mich nicht mehr und ich friere sofort. Mein Kinn ziehe ich zurück, genauso wie meine Hand, die seine Bauchmuskeln gestreichelt haben. Während ich mich aufrichte und die Decke abstreife, halte ich nach meinen Klamotten Ausschau.

"Hey." Seine Stimme klingt sanft.

Ich greife nach meinem Pullover und ziehe ihn mir über.

"Lucie!" Eine Warnung. Als ich mich bücken will, um meine Jeans aufzuheben, umschlingen mich zwei Arme von hinten. Alec drückt mich an sich und ich fühle seine starken Muskeln, die sich an mich schmiegen. Seinen Kopf kann er ohne Probleme auf meinem abstützen, so gross ist er.

"Ich verurteile dich nicht", versichert er mir. Ich schliesse die Augen und seufze, auch wenn im Moment mehr als nur ein Seufzer angebracht wäre. Denn ich habe in dieser Nacht kein einziger Gedanke an Mike verschwendet. Und das schlechte Gewissen - das könnte viel grösser sein.

"Lass mich los", sage ich, wenn auch nur leise.

"Lucie, nein."

"Was willst du?", frage ich ihn, weil ich selber nicht mal weiss, was ich will.

"Ich hab doch nur gefragt. Zwischen euch scheint es nicht gut zu laufen." Eine Pause entsteht.

"Bitte, Lucie. Rede mit mir."

Als wäre er plötzlich ein smart Boy.

"Jetzt lass mich einfach", versuche ich ihm zu verstehen zu geben. Als er mich nach ein paar Sekunden loslässt, greife ich nach meinen Jeans und werfe mich förmlich auf die andere Seite des Raumes, wo ich sie mir in Windeseile überstreife.

"Wieso hast du das eigentlich getan?", frage ich ihn. Ich weiss nicht wieso, aber ich klinge vorwurfsvoll. Vielleicht aus Angst und auch ein bisschen, weil ich mich wie ein Flittchen fühle. Aber die Schuld auf ihn abwälzen, das kann ich nicht, auch wenn ich es unbewusst versuche. "Du wusstest ja, dass ich einen Freund habe."

"Ja, das wusste ich." Er verschränkt die Arme vor der Brust. Wir stehen gegenüber voneinander, er immer noch Oberkörperfrei. Ich muss mich anstrengen, weiter in sein Gesicht zu schauen, und mein Blick nicht nach unten wandern zu lassen. Eine Verlockung.

Plötzlich füllen Tränen meine Augen. Ich blinzle sie weg.

Alec löst seine verschränkten Arme und fährt sich einmal mit beiden Händen übers Gesicht.

"Hör mal", fängt er an und räuspert sich. "Ich will, dass du weisst", er kommt einen Schritt näher, "dass ich dich nicht verurteile." Noch ein Schritt. "Wir waren uns nahe." Noch einer. "Und es hat sich so gut angefühlt."

Eine Pause entsteht. Ich starre auf den Boden, erkenne aber aus dem Augenwinkel, dass er eine Hand nach meiner ausstreckt.

"Findest du nicht?", hackt er nach.

Ich blicke auf, als seine meine Hand umschliesst. Sofort durchströmt eine angenehme Wärme meinen Körper.

Von unseren verschränkten Fingern sehe ich hoch.

"Aber ich habe einen Freund", sage ich vollkommen weggetreten, denn mir ist bewusst, dass dies ein Fehler ist. Und die Reaktion von ihm hätte ich nicht erwartet. Diese Zutraulichkeit anstatt Abwegigkeit.

"Ja", seufzt er. "Aber irgendwas scheint dir ja wohl zu fehlen, nicht?"

Daraufhin sage ich nichts.

"Ich habe dich schon öfters gesehen." Seine Stimme klingt leise, aber immer noch tief. "Ich muss immer an dich denken, Lucie." Jetzt sehe ich auf. "Immer. Und ich-" Er scheint zu überlegen.

"Ich konnte nicht wiederstehen."

"Hallo? Ist da jemand?", ertönt eine Stimme von draussen. Marlies! Gott sei Dank.

"Hey", rufe ich und renne schon fast zur Tür.

Ein Schlüsselbund ertönt und gleich darauf öffnet sich die Tür. Eine überraschende Marlies steht da.

"Oh, Kind, was machst du denn hier?" Ihr Blick huscht hinter mich und im ersten Moment habe ich schon Angst, sie könnte etwas falsches denken. Doch sogleich erhasche ich Alec und sehe, dass er sich sein Pullover angezogen hat.

"Wahrt ihr etwa die ganze Nacht hier drin?", fragt Marlies ungläubig. Ich komme gar nicht dazu, etwas zu sagen, schon tritt Alec neben mich.

"Ja", sagt er. "Die Tür ist leider zu und von innen kann man sie nicht mehr öffnen."

"Ihr armen! Ich dachte gestern schon, du seist gestern einfach gegangen Lucie. Ihr habt sicher gefroren. Los, kommt und trinkt erstmal einen Kaffee."

Ich bin atemlos und planlos zugleich, denn wir haben alles andere als gefroren.

Ich lasse es mir nicht zweimal sagen und gehe schnurstracks an Marlies vorbei. Währenddessen rufe ich ihr zu: "Ich muss leider ganz dringend nach Hause. Ich habe noch einen Termin."

"Warte." Alec ignoriere ich vollkommen. Ich will nur noch weg, denn ich habe Mike versprochen, ihn am Mittag noch anzurufen.

Mit einem Winken über die Schultern verabschiede ich mich von Marlies und gehe noch kurz in die Bibliothek, um meinen Rucksack zu holen.

Nachdem ich in meinen Audi eingestiegen bin, gebe ich Gas und fahre mindestens 15 km/h zu schnell. Die letzte Nacht fliesst im Schnelldurchlauf durch meine Hirnzellen, die scheinen, als wären sie von Elefanten zertrampelt worden. Wo war nur mein Kopf? Mit der flachen Hand schlagt ich mir auf die Stirn. Fuck!

Während der Nachhausefahrt überlege ich hin und her, ob ich es Mia erzählen sollte. Normalerweise erzähle ich ihr immer alles, wenn einmal etwas spannendes in meinem Leben passiert. Und das kommt sehr selten vor. Als ich in meinem Appartement angekommen bin, ist schon halb neun Uhr. Und als ich zehn Minuten lang nervös auf und ab gegangen bin, greife ich nach meinem Handy und wähle ihre Nummer.

Unumgehbare Lust (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt