Kapitel 2-2

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Am Abend des vierten Aprils gab sich seine Exzellenz, der Graf von Arling, die seltene Ehre, mit seiner Familie zu speisen. Für Elsa, die ihren Vater kaum zu Gesicht bekam, ein Grund, pünktlich am Tisch zu erscheinen. Die Dienerschaft deckte die Tafel in festlichem Weiß und holte das Silber heraus. Vergoldete Kerzenleuchter neben den Speisen und an den Wänden vermittelten den Eindruck von Tageshelle. Gleichzeitig erhitzten sie den Raum zusätzlich zum prasselnden Kaminfeuer, was Elsa willens machte, sich ihres Hausmantels zu entledigen. Aber allein der gestrenge Blick ihrer Zofe, als sie den Saum nur berührte, hielt sie davon ab. Ihr Vater würde diesen Anblick vor der männlichen Dienerschaft als ungebührlich bezeichnen. Georg, ihr ältester Bruder, nahm am Tischende, gegenüber ihrem Vater, Platz. Alexander gleich neben dem Hausherrn und Elsa zu seiner Linken. Ihre Mutter speiste fernab mit den zwei kleineren Mädchen. Elsa mutmaßte, dass dem Grafen nicht nach dem Geschrei, insbesondere der jüngsten, vierjährigen Tochter, aus direkter Nähe zumute war.
„Was gibt es Neues in meinem Hause? Wie steht es um die Kinder?", fragte Graf Arling mit Blick auf seine Frau.
Madame Arling tupfte das Kinn ihrer jüngsten ab, ehe sie der Zofe einen Wink gab. Sie bemühte sich redlich darum, persönlich Anteil an der Erziehung ihrer Töchter zu haben, aber ihre Pflichten als hohe Dame des Hauses ließen das nur gelegentlich zu. Insbesondere nun, wo sie sich, leider Gottes, wieder verstärkt Elsa zuwenden würde.
„Die Kleinen gedeihen prächtig, mein Herr. Christine schließt bald ihr drittes Jahr an der Volksschule ab und Charlotte wird nächstes Jahr eingeschult. Sie plappert schon wie ein Papagei, bald wird sie fähig sein, all ihre Gedanken zu verschriftlichen."
Graf Arling verzog den Mund. „Ich bevorzugte es, die beiden unterstünden einem Privatlehrer, aber da es nun mal des Herzogs Wille ist, die Kinder gemeinschaftlich einzupferchen."
„Macht Euch keine Sorgen. Bis auf wenige Ausnahmen der Kaufmannschaft ist die Schule am Schlossteich nur von bester Gesellschaft erfüllt."
Elsa stocherte in ihrem Essen herum und tat nur ab und an einen Bissen, wenn ihr Vater zufällig den Blick über sie schweifen ließ. Sonst käme wieder zu Gespräch, dass Elsa zuweilen in der Küche dem Mahl vorgriff, um sich vor dem langatmigen Abendessen zu drücken. Aber sie erwartete nicht, dass er ihr allzu viel Beachtung schenken würde. Georg galt wie immer das Hauptaugenmerk des Grafen. Als fürchte er, er könne jeden Tag tot umfallen und der älteste Spross sein Erbe antreten.
„Wie steht es um deine Brautschau, mein Sohn? Ich meine, es wird langsam Zeit für dich", wandte sich der Graf an Georg.
Dieser kaute seinen Bissen geflissentlich fertig, ehe er sich einen langen Schluck gönnte. „Um ehrlich zu sein, finde ich es unangemessen, dass Männer unseres Standes, sich auf gesellschaftlichen Anlässen an die Damenschaft anbiedern. Ich fände es passabler, wenn die heiratswilligen Frauenzimmer hier bei uns vorstellig würden."
„Georg", wandte Madame Arling empört ein, „es ist Tradition, dass ein Mann seiner zukünftigen Gattin den Hof macht. Es zeugte von mangelnden Manieren, wenn eine Frau versuchen würde, ihrem Künftigen bei sich zu Hause aufzulauern."
„Es brächte nur unnötige Gerüchte in Umlauf", ergänzte der Graf, „ich erwarte, dass du pflichtgemäß die Ballsaison hinter dich bringst und dieses Jahr eine Frau ablieferst."
Georg stieß die Luft aus. „Das habe ich bereits zwei Mal. Keine genügte Euren Ansprüchen."
Graf Arling kaute genüsslich auf einem Bratenstück und zeigte mit der Gabel zu seiner Frau. „Irma, wie hieß noch gleich die letzte Frau, die er uns präsentiert hatte?"
„Das war Mademoiselle Adelheid Küstersen."
Mit der Gabel in der Hand stocherte der Graf Löcher in die Luft vor Georg. „Eine Frau aus dem niedersten Adel. Ihr Vater hat sich beim Hofe eingekauft."
„Würdet Ihr mich zum Hofe des Herzogs mitnehmen, hätte ich ein klareres Bild über die Verhältnisse", protestierte Georg.
„Es reicht, dass einer von uns sich am Hofe seiner Durchlaucht krumm machen muss. Ich habe auf den ersten Blick erkannt, dass sie dem Bürgertum entsprang. allein wie sie ging." Er machte eine wegwischende Handbewegung.
„Sie war sehr hübsch anzusehen." Gräfin Arling legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter.
„Ja, genau wie seine Vorherige, diese Jöhsflucht – Tochter eines ärmlichen Ritters vom Lande. Ihre Hautfarbe hätte dir zeigen müssen, dass sie ihre Tage unter der Sonne verbringt."
„Also soll ich auf den Bällen nach ungesunder Blässe Ausschau halten?" Georg schien das Essen mittlerweile vergangen zu sein. Seine Gabel lag unberührt neben seinem Teller.
Der Graf tippte sich an den Kopf. „Du sollst deine Entscheidung hiermit treffen und nicht mit dem Gemächt. Meine Heirat mit eurer Mutter war auch nicht vom Zufall bestimmt."
„Erspart uns das Aufkochen dieser alten Suppe", sagte Georg.
„Ich verstehe noch immer nicht, wie du einen Freund heiraten konntest, Mutter", mischte sich Elsa ein, wofür sie einen tadelnden Blick ihres Vaters erhielt.
„Die Ehe wurde väterlicherseits anberaumt. Unsere frühere Bekanntschaft war ein gutes Fundament für unsere Ehe", erklärte Gräfin Arling.
„Und vereinigte zwei mächtige Grafschaften miteinander", sagte ihr Vater selbstzufrieden. „Pflegst du männliche Bekanntschaften, Tochter?"
„Wie sollte ich?"
„Gut so. Wir werden einen passenden Ehemann für dich finden." Er wandte sich wieder seiner Frau zu. „Konntest du sie mittlerweile dazu bewegen, dieses Jahr ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen?"
„Elsa wird ihre ersten Erfahrungen auf dem Frühjahrsfest machen. Ihr Kleid für den Ball der Dingelfurths ist bereits in Arbeit."
Elsa verschränkte die Arme. Nachdem sie sich drei Jahre erfolgreich dagegen verweigert hatte, ihre Freiheit aufzugeben, hatte ihre Mutter die Entscheidung letztlich für sie getroffen. Sie hatte gehofft, ein letztes Veto einlegen zu können. Aber nachdem sie die Angelegenheit ihrem Vater als vollendete Tatsache darstellte, gab es keinen Ausweg mehr.
„Ich werde die nächsten Wochen wieder vermehrt am Hof des Herzogs sein." Der Graf sah zu seinen zwei Söhnen. „Ich erwarte daher, dass ihr eure Schwester zu gesellschaftlichen Anlässen begleitet und auf sie achtet."
„Wie soll ich eine Frau finden, wenn mir dieser Quälgeist ständig an den Fersen hängt?", beschwerte sich Georg.
Elsas Vater zog die Brauen zusammen. Auf einen bittenden Blick ihrer Mutter presste er die Lippen zu einem Strich, ehe er in sachlichem Tonfall antwortete: „Ich erwarte baldige Ergebnisse in dieser Sache – zufriedenstellende Ergebnisse."
Georg wandte den Blick ab, worauf das Familienoberhaupt sich Alexander zuwandte, dessen fröhlicher Gesichtsausdruck sogleich verblasste. „Somit fällt es dir zu, deine Schwester zu behüten."
„Aber Vater!"
„Genug! Du magst nur mein Zweitgeborener sein, aber ich habe dir ausreichend lange bei deinen Eskapaden zugesehen. Musik, Theater, Schach." Er warf die Hände über den Kopf. „Wenn du willst, dass ich weiterhin diese Schandwerke, mit denen du dein Zimmer tapezierst, dulde, dann such dir eine hübsche Frau als zukünftiges Motiv."
„Und ich soll das vollbringen, während ich zugleich Elsa hüten muss?"
Elsa stemmte empört die Hände in die Hüfte. Sie hatte in ihrem Bruder bisher einen Verbündeten gesehen. Die Aussicht, mit ihm ein Fest zu besuchen, machte den Gedanken halbwegs erträglich. Dass er ihr derartig in den Rücken fiel, war unverzeihlich.
„Nachdem deine Wahl für unser Haus nicht entscheidend ist, wird deine halbe Aufmerksamkeit genügen, um eine halbwegs passable Braut zu ergattern."
Alexander schürzte die Lippen, wagte aber keinen weiteren Widerspruch.
„Bedenkt bei euren Entscheidungen stets, dass der Herzog nur zu gerne eine Gelegenheit ergreifen würde, um uns unserer Grafschaft zu berauben. Sein Hofstaat ist voll niederen Adels, der sich bei ihm eingekauft hat, um diesen Kleinkrieg mit den Sarxen zu finanzieren. Der Herzog braucht urbares Land, um sie alle in Würden wieder loszuwerden."
Das war für Elsa der Startschuss, um dem Tischgespräch nicht mehr zu lauschen. Wenn ihr Vater mit dem Herzog und dessen Plänen anfing, stand der Familie eine ewige Litanei bevor. Er würde die unwahrscheinlichsten Szenarien heraufschwören, wie es seiner Durchlaucht gelänge, ihnen ihre gewaltigen Ländereien streitig zu machen. Dabei war es eine einfache Sache. Wenn Georg heiratete, würde die Grafschaft nach ihres Vaters Tod auf ihn übergehen. Würde der Herzog sich dem widersetzen, könnten andere Lehnsnehmer aufmüpfig werden, die sich vor ähnlichen Sanktionen fürchteten. Doch nach der Ansicht des Grafen mussten sie sich zusätzlich absichern. Seine Kinder sollten einflussreiche Ehepartner an Land ziehen, um ihren Einfluss zu mehren. Je geringer das Machtgefälle zum Herzog, desto unwahrscheinlicher, dass er sich gegen sie wandte. Und dafür büßten sie alle mit ihrer Freiheit.

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