Epilog

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Das Jahr schritt zügig voran, obwohl Florentine das Gefühl hatte, jeden Tag etwas Neues zu erleben. Schon bald hatten sich die Bediensteten an ihre lockere Art gewöhnt und ihre Zofe hatte sich überreden lassen, sie zukünftig zu duzen. Einzig in der Gegenwart Alexanders wollte ihr das nicht recht gelingen.
Zu dem Grafen hatte Florentine über all die Monate keine gute Beziehung aufbauen können, allerdings pflegte er zum Rest seiner Familie auch eher respektvollen Abstand. Alexanders Mutter hatte sich an ihre lebensfrohe Art gewöhnt und ließ sich ein ums andere Mal sogar dazu verleiten, ihre höflichen Gepflogenheiten abzulegen. Ihre jüngsten zwei Schwägerinnen waren Florentine rasch ans Herz gewachsen. Christine und Charlotte genossen den Umgang mit ihrer neuen Schwester sichtlich, insbesondere, da die beiden als einziges Zuhause übriggeblieben waren. Madame Arling überließ Florentine gerne die Kleinen in ihre Obhut und erholte sich von ihren mütterlichen Pflichten.
Dann gingen sie auf Erkundungsgänge in den Wald, bauten Festungen aus kleinen Ästen und spielten Fangen auf dem weiten Gelände des Anwesens. Aber was die Mädchen am meisten faszinierte, waren Florentines akrobatische Künste. Munter eiferten sie ihr nach und schlugen Räder, balancierten auf ihren Händen und rollten durch die Wiese. Sehr zur Belustigung Alexanders und zur Bestürzung ihrer Zofen.
Während die Arbeiten an ihrem neuen Zuhause langsam vorangingen, lebten sie weiter auf dem Land. Keiner von beiden hatte besondere Lust, ständig auf dem höfischen Parkett zugegen zu sein. Alexander hatte sein Atelier der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Immer wenn sie die Stadt besuchten, hatten sie eine Wagenladung ihrer neuesten Werke bei sich. Das Interesse der Kunden war nicht überschwänglich, aber doch ausreichend, um nötigenfalls damit über die Runden zu kommen. Selbstverständlich brauchten sie das Geld nicht, nachdem Alexanders Rehabilitation in der Familie ihm Zugang zum Reichtum der Arlings gewährte. Aber beiden gefiel es, irgendwie doch auf eigenen Beinen stehen zu können.
Als die letzten Blätter von den Bäumen fielen, verlegten sie ihre Aktivitäten mehr nach drinnen. Sie verbrachten ihre Tage bei Würfel- & Kartenspielen, Schach und Dame. Alexander schlug sie zunächst in den Spielen, die beim Adel am beliebtesten waren, während Florentine klar in jenen überlegen war, die sie von Kind auf erlernt hatte. Nach einigen Wochen waren sie in beiderlei gleichauf und duellierten sich bis spät in die Nacht hinein. Manches Mal musste Alexander auch in die Stadt, verbrachte seine Zeit bei Herrenrunden und Händlern. Dann brachte er ihr neue Lektüre mit, die Florentine in Windeseile zu verschlingen wusste. Je kälter es draußen wurde, desto häufiger stand sie am Fenster und sah abwartend in die winterweiße Landschaft. Und eines Tages war es so weit: Die Wägen der Zirkustruppe rumpelten über den Trampelpfad zu ihrem Anwesen.
Sie begrüßten einander aufs Herzlichste. Johann rekapitulierte die Erfolge ihrer Auftritte, beklagte sich über Florentines Fehlen und trank übermäßig viel Wein und Bier. Florentine hatte die Dienerschaft vorgewarnt, sodass diese nicht völlig bestürzt über den ungewohnten Besuch waren. Einzig Laurenz sorgte für Aufsehen, nachdem er sich mehr mit den Dienstmägden beschäftigte als mit seinen Gastgebern. Florentine rechnete schon damit, dass nach seiner Abreise alle Frauen des Hauses wehmütige Blicke aus dem Fenster werfen würden.
„Du bist schwerer geworden", sagte Laurenz, als sie sich von der Gruppe zurückgezogen hatten, um ihrer alten Leidenschaft nachzugehen. Es fühlte sich keineswegs ungewohnt an, auf seinen Händen zu balancieren, obwohl sie über ein halbes Jahr keine Übung mehr hatte.
„Ich werde gut genährt."
„Du meinst, du bist ein Vielfraß." Er setzte sie mit einem Zwinkern ab und Florentine fühlte ihren Bauch. Die Erhebung war noch nicht deutlich sichtbar. Ihre drahtige Gestalt kaschierte das Kommende. Aber ihre Mutter hatte bereits Andeutungen gemacht.
„Vielleicht liegt es auch daran, dass du mittlerweile zwei Personen in die Höhe stemmst."
Er sah sie erst verwirrt an, dann blinzelte er heftig und schloss sie in die Arme. „Meinen Glückwunsch, Schwesterherz!"
Sie erwiderte die ungewohnt sanfte Umarmung.
„Warum hast du das nicht gleich gesagt? Und ich werfe dich umher wie einen Mehlsack."
„Genau deswegen. Ich möchte nicht wie eine Porzellanfigur behandelt werden."
„Du wirst dich daran gewöhnen müssen."
Florentine verdrehte die Augen. Selbst ihr Bruder wurde weich wie ein Schwamm, wenn es um eine schwangere Frau ging. Dabei beeinträchtigte sie die Schwangerschaft keineswegs. Zugegeben hin und wieder war ihr übel und sie verzichtete dankend auf deftige, soßengetränkte Gerichte, aber ansonsten war sie dieselbe. Einzig der Gedanke an die Geburt besorgte sie, aber Alexander hatte eine Hebamme aufgetrieben, die sich fürsorglich um ihre Bedenken kümmerte.
„Erwartest du auch schon Nachwuchs?"
„Meine Liebste ist prüde wie eine Nonne; zumindest was mich betrifft."
„Eine Frau, an der dein Charme abprallt. Das muss dich bestürzen."
„Er klagt tagein tagaus darüber", sagte Elsa, die gerade den Wintergarten betreten hatte.
„Die Dame hat sich also endlich bemüßigt, aus dem Bett zu kommen", stichelte Laurenz.
„Jetzt, wo ich ein weiches Federbett und genügend Platz habe, will ich das auch auskosten."
„Also hast du dir schon ein Zimmer ausgesucht?", fragte Florentine.
„Direkt neben euch, Flo."
Florentine umarmte ihre Schwägerin. Sie war kurz nach ihrer Ankunft im Kloster entflohen und der Zirkus hatte sie aufgenommen. Eine beträchtliche Spende an die Nonnen hatte sie dazu gebracht, Stillschweigen zu bewahren. Sie hatte ihren Familiennamen abgelegt und nannte sich Spielmann, wie es auch Johann tat. Ihre Liaison mit Laurenz war eher weniger romantischer Art. Während Laurenz nur zu klagen wusste, erzählte Elsa, dass sie ihn öfter als genug, über sich herfallen ließ, aber Laurenz nie genug bekäme.
„Wir müssen üben. Johann erwartet, dass du nächstes Jahr auftrittst", sagte Laurenz.
Elsa stöhnte auf und rieb sich die Hüfte. „Ich habe noch blaue Flecken von gestern."
„Es wird weniger mit der Zeit", beruhigte Florentine sie.
„Freiheit habe ich mir anders vorgestellt."
„Freiheit ist ein anderes Wort für Arbeit." Florentine zwinkerte ihr neckisch zu. Die beiden begannen mit ihren Übungen, die vornehmlich auf geringer Höhe stattfanden. Johann hatte klar gemacht, dass er kein arbeitsscheues Maul zu stopfen bereit war. Außerdem wäre ihre beste Tarnung, Teil der Aufführung zu werden und somit nicht mehr als Dame von edlem Geblüt wahrgenommen zu werden. Über die lockere Kleiderordnung hatte sich Elsa sichtlich gefreut, aber an das Arbeitspensum musste sie sich noch gewöhnen. Früher oder später würde sie es lieben. Sie war der perfekte Gegenpart zu Laurenz in persönlicher Hinsicht. Beide liebten ihre freie Art zu leben, wollten sich nicht festlegen. Und Elsa hatte mittlerweile gelernt, ihm ebenso Paroli zu bieten, wie Florentine es gepflegt hatte. Ständig beklagte er sich, er vermisse das wohlerzogene Mädchen aus gutem Hause. Doch in Wahrheit genoss er es, da war Florentine sich sicher.
Florentine ging hinauf in den Salon, wo sich der Rest des Zirkustrupps mit Spielen und Gesprächen beschäftigte. Ihre Ma schloss sie sogleich in die Arme und erkundigte sich zum wiederholten Mal nach ihrem Befinden, während sie ihren Babybauch befühlte.
„Es wird schon langsam spät, mein lieber Gemahl."
Alexander erhob sich von dem Sofa, wo er von Johann belagert wurde. Er schloss sie in die Arme und flüsterte ihr zu: „Danke für die Errettung." Er wandte sich zu der Runde um. „Es wird Zeit, Euch Eure Zimmer zu zeigen, ehe die Nacht uns überrascht."
„Ihr wollt uns doch nicht schon ins Bettchen schicken, hoher Herr?", witzelte Johann.
„Wenn es Euch beliebt, Herr Spielmann, so möget ihr auf dem Sofa schlafen, auf dem ihr gerade liegt. Unser Haus ist das Eurige. Alle anderen sollten sich von der Hausdame ihre Räumlichkeiten weisen lassen, ehe die Dienerschaft zur Ruhe geht."
Als hätte er den Startschuss für ein Pferderennen gegeben, sprangen die Leute auf und eilten der Tür entgegen, wo Hertha, die Hausdame, sichtlich erschrocken auf sie wartete.
„Gnädiger Herr, wir werden nicht genügend Zimmer für all diese Gäste haben."
„Keine Sorge, sie sind es gewohnt, zu mehrt in einem Bett zu schlafen", antwortete Florentine.
Hertha schürzte die Lippen und neigte das Haupt.
„Nötigenfalls können sie auch hier im Salon schlafen. Die Sofas sind bequemer als so manches Bett", ergänzte Alexander.
„Sehr wohl, mein Herr." Damit führte sie die Meute hinaus, die sich schon jetzt um das beste Zimmer und die Verteilung, wer mit wem schlafen sollte, stritt. Alexander legte den Arm um Florentine. „Eine vorzügliche Abwechslung, die Gesellschaft deiner Familie."
„Wir werden den Winter über auf hohen Besuch verzichten müssen."
„Mitnichten. Den Ausdruck auf ihren Gesichtern will ich mir nicht entgehen lassen."
Sie beäugte ihn mit schelmischem Grinsen. „Mir scheint, du planst, dein Haus in Verruf zu bringen?"
Er küsste sie auf den Mund. „Das habe ich doch schon mit meiner unschicklichen Hochzeit."
Florentine wedelte mit der Hand, als fächere sie sich Luft zu. „Ihr habt eine Dame von Stand geheiratet, mein Herr. Vergesst das nicht."
Er packte sie und hob sie in die Höhe. „So will ich sie nun standesgemäß in ihr Gemach führen."
„Nichts lieber als das."
Er trug sie den langen teppichgesäumten Flur entlang, bis sie vor der verschnörkelten Tür ihres Schlafzimmers ankamen. Mit dem Fuß drückte sie die Türschnalle hinunter. Auf dem Bett ließ er sie nieder. Während er sich auszog, sah sie an die Decke. Es hatte Monate gedauert, das ganze Zimmer zu bemalen. Der Graf würde bestürzt sein, wenn er diese Verunstaltung seines Anwesens wahrnahm. Aber er war ohnehin nur selten zu Besuch und hielt sich von ihren Räumen fern.
Die Decke spiegelte den Himmel wieder, der mit sanften Wölkchen behangen war. An den Wänden ging es über zu einem Panorama aus Wäldern, weiten Wiesen und schmucken Blumenbeeten. Inmitten all dessen saßen sie beide. Sie hatte ihr Schlafzimmer in eine größere Variante ihres Wohnwagens verwandelt.
„Ich werde das hier vermissen, wenn wir umgezogen sind."
Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn. „Die Wände in unserem neuen Haus werden weiß getüncht. Du wirst dich überall austoben dürfen."
Sie hob mehrfach die Augenbrauen. „Was werden unsere Gäste zu solch illustrem Zierrat sagen?"
„Sie werden staunen und darum betteln, du mögest aus ihren staubigen Hütten ebenfalls solch himmlische Paläste erschaffen."
Ihre Finger strichen über den sanften Bartflaum an seinem Kinn. „Du schmeichelst mir."
„Nein, ich sage nur die Wahrheit." Er küsste ihren Bauch. „Und bald wirst du dein Gemälde hier ergänzen müssen."
Florentine sah verträumt zur Seite, wo sie beide bei einem Picknick auf einer Wiese beisammensaßen. Ja, bald würden sie zu dritt dort speisen.

Tanz der StändeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt