Kapitel 9-2

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Eine lange Prozession betrat den Thronsaal des Herzogs. Über den roten Teppich mit goldener Bordüre gelangte sie durch die doppelflügelige Tür in den weitläufigen Raum. Die aus groben Steinen erbauten Wände strahlten Kälte aus, die auch von den steten Versuchen, ihnen durch Wandbehang und Holzvertäfelungen etwas Zeitgeist zu verleihen, nicht überstrahlt werden konnte. Auch die zahlreichen Essen, die sich am Rande des Raums befanden, vermochten es nicht, Alexander das Frösteln zu nehmen. Gebückt wie Büßer marschierten sie hinter dem Hofstaat ein, der sich links und rechts platzierte und der Verhandlung beiwohnen würde. Auf einem reich verzierten Thron saß der Herzog mit versteinerter Miene und sah auf sie herab. Rechter Hand saß ein Schreiber und führte Protokoll.
Alexander, sein Vater, Sir Jeverbruch und Baron Bocken knieten vor dem Herzog ab, bis er sie anwies, sich zu erheben.
„Wir haben uns heute versammelt, um über den Totschlag des Georg von Arling, Sohn des Grafen Willhelm von Arling zu richten. Sir Jeverbruch, als Angeklagter ist es an Euch, für Euch selbst zu sprechen."
„Ich danke Euch, Eure Durchlaucht." Der Ritter erhob sich. „Wie viele der Anwesenden wissen, hat sich der Sohn des Grafen auf dessen Ball erdreistet, meine Tochter in eine schmutzige Kammer zu zerren und dort über sie herzufallen!"
Der Graf wollte protestieren, doch der Herzog gebot ihm Einhalt. Allgemeines zustimmendes Gemurmel antwortete dem Ritter.
„Ich forderte, der Graf möge die Ehe vor Gott bezeugen lassen, nachdem sie bereits vollzogen wurde. Doch der Graf verweigerte, die Ehre meiner Tochter wiederherzustellen. Somit sah ich mich gezwungen, die Forderung durch ein Duell durchzusetzen."
Der Herzog hob die Hand. „Graf Arling, habt Ihr dieses angenommen?"
„Ja", gab der Graf zerknirscht zu.
„Ihr habt nicht das Verfahren vor einem Ehrengericht gefordert?"
Eine gefährliche Frage, das wusste Alexander. Immerhin deutete die Antwort darauf hin, dass der Graf seine Schuldigkeit eingesehen hatte und nur durch ein Duell versucht hatte, das Blatt zu wenden.
„Ich hatte nicht den Eindruck, Sir Jeverbruch wünschte eine förmliche Verhandlung", antwortete der Graf ausweichend.
„Nun, so fahret fort, Sir Jeverbruch", befahl der Herzog.
„Heute am Morgen brachen wir auf, um das Duell standesgemäß vor dem Westtor abzuhalten. Herr Alexander Arling und Baron Bocken dienten als Adjutanten, um die Einhaltung der Etikette zu kontrollieren."
„Diese beinhaltet, dass ein Kontrahent sich zu unterwerfen hat, wenn ein Gegner klar im Vorteil erscheint. Schwere Verletzungen sollten vermieden werden und eine Tötung ausgeschlossen sein. Wie kam es aus Eurer Sicht zur Übertretung der wichtigsten Regel des Zweikampfs?"
„Eure Durchlaucht, der Tod Georgs Arling betrübt mich schwer, jedoch war er nicht zu verhindern. Schon nach kurzer Zeit war klar, dass er sich meiner nicht erwehren konnte, aber Georg gab nicht klein bei."
Der Herzog sah zu Alexander hinüber, der seinen Blick senkte. „Herr Alexander Arling. Ihr ward der Adjutant Eures Bruders. Wieso habt ihr nicht eingegriffen und das Duell für beendet erklärt?"
„Ich sah ihn noch nicht als geschlagen."
„Er focht einen Rückzugskampf", mischte sich Bocken ein.
„Ein taktischer Rückzug – eine übliche Strategie, um sein Vorgehen zu evaluieren."
„Lächerlich!"
„Ruhe!", gebot der Herzog. „Es gilt anzunehmen, dass die Ausführungen Sir Jeverbruchs richtig sind. Nur selten wurde ich Zeuge, dass ein Adliger aus hohem Hause es mit einem Ritter aufzunehmen wusste, dessen Tagwerk der Kampf im Felde ist."
Alexander stimmte ihm widerwillig zu. Wäre es andersherum gewesen, könnte er die Sache vielleicht gewinnen. So argumentierte er ins Leere hinein. Er kannte den Ausgang des Prozesses bereits, doch er wollte es nicht wahrhaben. Die ganze Prozedur war eingefädelt gewesen. Georg mochte nicht der moralischste Mensch sein, aber er hatte sich sicherlich nicht auf Johanna gestürzt. Wahrscheinlicher war es, dass sie seine Schwäche genutzt hatte, um ihn zu verführen. Möglicherweise ein Komplott, den sie mit ihrem Vater ausgeheckt hatte.
„Baron Bocken", sagte der Herzog, „da es dem Adjutanten des Gefallenen an der notwendigen Fähigkeit mangelte, die Situation angemessen zu bewerten, wäre es an Euch gewesen, den Kampf zu beenden."
Bocken räusperte sich vernehmlich. „Eure Durchlaucht, nichts hätte ich lieber getan. Doch Georg Arling fuchtelte wie ein Tollwütiger mit seinem Degen und spie Verwünschungen aus, die ich nicht zu wiederholen gedenke. Ich sah mich nicht imstande, diesen Kampf auf gütliche Weise zu beenden."
„Ihr verdammter Intrigant!" Der Graf von Arling wollte auf Bocken losgehen, da hielten ihn zwei Wachmänner auf.
„Graf Arling, mäßigt Euch oder ich lasse Euch aus dem Saal werfen!", rief der Herzog, ehe sich die Situation wieder beruhigte. „Sir Jeverbruch, fahrt fort."
„Sehr wohl, Eure Durchlaucht. Ich tat mein Möglichstes, meinen Kontrahenten zu entwaffnen, um ihn zur Aufgabe zu zwingen. Ich schaffte es schließlich, doch er fuhr fort, mich mit wüsten Beschimpfungen zu attackieren, weswegen ich ihm einen Schlag verpasste, der ihn zur Ruhe bringen sollte."
Der Herzog nickte verständnisvoll. „Das erscheint mir ob solch ungebührlichen Verhaltens als angebracht."
„Doch statt beizugeben, zog er einen Dolch und drohte ihn mir in die Brust zu stoßen. Ich sah keinen anderen Ausweg, als ihm zuvorzukommen. Er verblutete noch am Kampfesplatz."
„Baron Bocken, bestätigt Ihr die Ausführungen Sir Jeverbruchs?"
„Jawohl, Eure Durchlaucht."
„Herr Arling?" Der Herzog sah Alexander fragend an und auch sein Vater warf ihm einen warnenden Blick zu. Alexander spielte mit dem Gedanken, seinen Bruder zu verteidigen. Selbstverständlich hatte auch Sir Jeverbruch sein Übriges getan, die Situation anzufachen, aber schlussendlich war er der klare Sieger. Obwohl seine Familie ihn verstoßen hatte, so wollte er sie trotzdem nicht der Schande preisgeben. Aber eine Falschaussage würde erhebliche Konsequenzen mit sich bringen. „Möglicherweise hätte Sir Jeverbruch Georgs Leben schonen können, nachdem er seine Überlegenheit so vorzüglich dargestellt hat."
„Ihr erdreistet Euch, ihn auch noch zu verteidigen?", fragte Sir Jeverbruch.
Der Herzog indes blieb völlig entspannt. „Ich nehme Eure Bedenken zur Kenntnis. Jedoch könnt Ihr die Ausführungen des Ritters bestätigen?"
Alexander sah zu Boden. „Ja, Eure Durchlaucht."
Der Herzog erhob sich und der ganze Saal kniete nieder. „In der Sache um den Totschlag des Georg von Arling verfüge ich wie folgt: Sir Jeverbruch wird von seiner Schuld freigesprochen, da er sich so weit es ihm möglich war, an die Etikette gehalten hat und seinen Gegner aus der Not heraus tötete, um sein eigenes Leben zu bewahren. Da der Gegenstand des Duells, die Verlobung von Fräulein Johanna mit Herrn Georg, nicht vollstreckbar ist, verfüge ich in weiterer Folge: Als Ausgleich für die Entehrung der Johanna möge der Zweitgeborene des Hauses Arling für seinen Bruder eintreten und die Dame heiraten."
Alexander wollte aufschreien, doch er musste Ruhe bewahren und an den Verstand des Herzogs appellieren. Vielleicht würde er Güte zeigen und sich auf eine Geldstrafe einlassen.
„Das ist unerhört!", warf Graf Arling ein.
„Wollt Ihr Euch meinem Urteil widersetzen, Graf?" Die Stimme des Herzogs war schneidend wie Stahl und ließ den Grafen verstummen.
„Eure Durchlaucht, ich bitte um Verzeihung, aber ich bin bereits einer anderen versprochen", warf Alexander ein. „Ich appelliere an Euch, um der Liebe Gottes willen, nehmt mir nicht das Wichtigste auf Erden für die Verfehlungen meines Bruders."
Der Herzog trat einige Schritte auf Alexander zu und verharrte eine Armlänge vor ihm. „Ich habe um Eure unerhörte Verlobung mit dieser Frau gehört. Wenngleich ich dieser nicht zugetan bin, verfüge ich – um Eurer Liebe willen – Folgendes: Sollte sich Herr Alexander Arling der Ehe verweigern, so ist Graf von Arling dazu verpflichtet, der Familie der Johanna eine jährliche Entschädigung in Höhe von 400 Gulden zu zahlen."
Das war eine stattliche Summe, die Sir Jeverbruch mehr als entschädigte. Ein saurer Apfel, in den der Graf beißen musste, aber dank seiner ausgiebigen Ländereien würde ihn dieser nicht zu Fall bringen.
„Diese Schuld überträgt sich auch auf seine Kinder und Kindeskinder bis zum Tode der Johanna Jeverbruch."
Dieser Nachsatz brachte Alexander zum Stocken. Wenn er Florentine heiratete, verlor er seinen Status als Adliger und würde die Grafschaft nicht erben, die hiernach wieder an den Herzog zurückfiele. Aber dann wäre es ihm unmöglich, solche Summen zu bezahlen. Das musste auch dem Herzog klar sein, der kühl auf ihn herabblickte und mit gesenkter Stimme sprach: „Nun zeigt mir, Herr Arling, wie viel Euch Eure Liebe wert ist."

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