Florentine spießte ein Stück Fleisch, das sie mühevoll abgesäbelt hatte, mit der Gabel auf und stopfte es sich in den Mund. Sie kaute mit geschlossenem Mund und setzte dabei ein höfliches Lächeln auf.
„Halte sie elegant und nicht wie einen Schmiedehammer", sagte Lady Aisenberg bestürzt.
Heute würden sie bei den Arlings speisen. Nachdem Florentine offiziell bei Lady Aisenberg wohnte, hatten die Arlings diese ebenso eingeladen. Eine vorzügliche Möglichkeit, sie vor eventuellen Dummheiten zu bewahren, wie die Lady angemerkt hatte. Nachdem die Diener das Übungsdiner aufgetragen hatten, hatte die Lady sie alle hinausgeschickt, um auf vertraulichere Art und Weise mit Florentine umzugehen. Die Lady konnte unvergesslich charmant und höflich sein, wenn sie es wollte. Aber legte sie den Mantel der Tugendhaftigkeit ab, sprach sie derber, als mancher Bauer es zu tun pflegte.
Florentine bemühte sich, den filigranen Griff um ihr Esswerkzeug von der Lady nachzuahmen. Es erschien ihr müßig, auf zwei ihrer Finger zu verzichten. Wofür hatte Gott ihr denn alle fünf zugedacht?
„Ein gefährlicher Plan, den du dir da ausgeheckt hast. Ich würde es vorziehen, wenn du und dein Bruder diese Auftritte sein lasst."
„Ich lasse meine Familie nicht im Stich."
„Wenn du jemanden auffällst, wird der Eklat auf sie übergreifen."
Darüber hatte Florentine bereits nachgedacht. Aber abgesehen davon, dass ihrer beider Auftritt den Höhepunkt darstellte, hatte sie Johann Feuer und Flamme für ihre Idee gemacht. Außerdem wäre es ein unverzeihlicher Verrat, ihre Leute im Stich zu lassen.
„Ich werde das schaffen. Es sind nur drei Wochen."
„Dann werdet ihr weiterziehen?"
„Wahrscheinlich." Florentine sah nachdenklich auf ihren Teller. Ihre Zeit verstrich. Früher oder später musste sie es ihren Leuten erzählen. Die Trennung würde ihr schwerfallen. Es konnte Monate, gar Jahre dauern, bis sie wieder in Königsfels aufspielten. Und was, wenn in der Zwischenzeit die Hochzeit mit Alexander schiefging?
„Wir werden es schaffen", ermutigte die Lady sie.
„Was, wenn der Herzog es ablehnt, mir den Adelsbrief zu verkaufen?"
„Wenn die Bitte vom Grafen von Arling selbst kommt, wird er sie ihm nicht verwehren."
„Und wenn der Graf sich dagegen entscheidet?"
„Er wird alles tun, um einen Eklat zu verhindern. Sobald eure Hochzeit öffentlich bekanntgegeben wird, kann er sich nicht mehr zurückziehen. Außerdem wird deine Art selbst den verstaubten Grafen beeindrucken."
„Meine Essmanieren werden es jedenfalls nicht", sagte Florentine. „Wieso hilfst du mir eigentlich?"
„Ich komme aus ähnlicher Situation."
„Du warst beim Zirkus?"
Die Lady lachte lauthals und klopfte auf den Tisch. „Nein, so ähnlich auch wieder nicht. Ich leitete ein erfolgreiches Handelsunternehmen in Sarxen und kaufte mir vom König die Adelswürde. Aber ich entkam meinem bürgerlichen Dasein dadurch nicht. Zwar war ich ihnen rechtlich gleichgestellt, doch sie vergaßen nicht, wer ich von Geburt an war. Daher wanderte ich hierher aus - als unbeschriebenes Blatt."
„Es ist ungewöhnlich für eine Frau, ledig zu bleiben."
„Ich wurde arm geboren und konnte nie heiraten, da meine Eltern nicht das Geld für eine Mitgift aufbringen konnten, die unsere Existenz gesichert hätte. Mein Vater starb vor seiner Zeit und ich musste mich um meine Mutter kümmern. Als ich genug Geld besaß, fehlte mir die Zeit, noch zu heiraten."
„Alexander erwähnte, dass ihr jedoch verheiratet ward?"
„Das Lästermaul einer Lady hast du schon mal", erwiderte die Lady gutmütig. „Es ist wahr. Als Adlige wurde eine Heirat von mir erwartet. Zu meinem Glück gibt es für mein Alter genügend verwitwete Männer, deren Frauen im Kinderbett gestorben sind."
„War es eine Liebesheirat?"
Lady Aisenberg schüttelte den Kopf. „Liebe hat im Adel nichts verloren. Sie ist eine glückliche Fügung, wenn sie der Zufall vorgibt und emsiges Bemühen, wenn sie im Beet der Ehe erblühen soll." So sachlich sie das formulierte, sie schien betrübt über diese Tatsache. Sicher hatte sie sich gewünscht, wahrlich geliebt zu werden, und hatte diesen Traum der Vernunft geopfert. Sie hob den Kopf an und sah Florentine voller Inbrunst an. „Umso mehr gilt es, dass diese glückliche Fügung, die dich und Alexander verbindet, in einer fulminanten Eheschließung gipfelt." Sie klopfte auf den Tisch. „Egal mit welchen Mitteln!"
Florentine ertrug den gestrengen Blick nicht länger und sah zur Seite. Mit einiger Bestürzung sah sie auf die Standuhr, die sich zu ihrer Rechten erhob. „Müssten wir nicht bald bei den Arlings sein?"
Lady Aisenbergs vertrauliche Art wechselte in Sekundenbruchteilen wieder zu der gestrengen Aristokratin. Wie ein General seine Truppen, so kommandierte sie ihre Bediensteten umher, die wie Ameisen durch das Haus huschten und ihre Abreise vorbereiteten.
Im Eiltempo fuhr ihre persönliche Kutsche die Steindammstraße hinauf. Das Haus der Arlings lag nicht weit. Natürlich wollte Florentine nicht unpünktlich kommen, aber je näher das Treffen mit seiner Familie rückte, desto mehr wünschte sie sich, mehr Zeit zu haben. Zeit, sich vorzubereiten auf diesen Familienverband, der auf einer missglückten Ehe aufbaute. Zumindest konnte sie sich nicht vorstellen, warum es den Kindern sonst so vor einer Heirat grauste. Die Kutsche fuhr eine Kurve und bog in die Herrengasse ab. Dort setzte der Kutscher die beiden vor der Tür der Arlings ab.
Das Anwesen der Arlings übertrumpfte das von Lady Aisenberg um ein Vielfaches. Die unzählbaren Fenster waren allesamt mit Zierrat von Rosen über Ranken bis hin zu Greifvögeln, die ihre weiten Schwingen über die Fassade streckten, beladen. Die Eingangstür, die man über eine breite Treppe mit gusseisernem Geländer erreichte, würde selbst dem beleibtesten Mann problemlos den Eintritt erlauben. Eine Dienstmagd, die ihrem Aufzug nach besser gekleidet war, als so manch betuchter Bürgerlicher, führte sie sogleich in den Speiseraum, der eines Königs würdig war. Eine viele Meter lange Tafel, bei der allein schon dekoratives Beiwerk die Hälfte des Platzes in Anspruch nahm, füllte den Raum. Kerzen und ein loderndes Kaminfeuer sorgten für behagliche Stimmung. Die silbernen Teller glänzten im Schein der Lichtquellen, das Besteck funkelte, als wäre es eben erst frisch poliert geworden. Von den Wänden starrten die Vorfahren des Grafen ernst auf sie herab, als prüften sie ihre Würdigkeit. Nicht minder streng erschienen ihr die Blicke der Anwesenden aus Fleisch und Blut.
Die Familie begrüßte die Ankömmlinge höflich. Alle waren zugegen, um dem Anlass gerecht zu werden. Einzig die zwei jüngsten Geschwister wurden andernorts versorgt, auf das sie nicht durch Quengelei die Stimmung verdarben. Florentine nahm zwischen Alexander und Lady Aisenberg Platz. Der Herr des Hauses saß weit entfernt am Tischende, Georg, der Erbe, relativ nahe bei den Besuchern am anderen. Gegenüber von Florentine saß Alexanders Mutter nebst seiner Schwester Elsa.
„Es ist bedauerlich, dass Euer Bruder nicht zugegen ist", ließ Elsa verlautbaren, worauf ihre Mutter ihr sanft auf die Finger klopfte.
„Es scheint sich anzubahnen, dass die Freymars und die Arlings in Zukunft viel miteinander zu tun haben werden", sagte Madame Arling.
„Das bleibt abzuwarten", wandte der Graf ein. „Wie ich hörte, versteht Ihr euch gut mit meinem Sohn, Fräulein Freymar."
„Ich empfinde seine Gegenwart als angenehm."
„Diplomatisch gesprochen", erwiderte der Graf, „ihr solltet Euch um ein Amt im Landtag bemühen."
„Florentine würde die Repräsentanten dort mit ihrer schnellen Auffassungsgabe in Verlegenheit bringen", warf Alexander ein, wofür Florentine ihm liebevoll zulächelte.
„Dann ist es Ihrer scharfen Zunge zu verdanken, dass du dich für sie interessierst?"
„Ihr Anblick tut sein Übriges."
„Ihr seid eine Augenweide, wenn ich das bemerken darf", bekräftigte Alexanders Mutter.
„Wie steht es um Eure weltlichen Güter, junges Fräulein? Besitzt Euer Vater Land?", mischte sich Georg ein, wofür er sogar vom Grafen selbst ein überraschtes Heben der Augenbrauen erhielt.
„Bruder, der Besitz Ihrer Familie ist mir gleich."
„Aber nicht unserem werten Vater."
Der Graf legte sein Besteck beiseite und rieb sich die Hände. „Ich denke, nachdem Alexander bereits sein Interesse aufs Deutlichste verkündet hat, ist ihre Mitgift zweitrangig."
Georg ließ seine Gabel polternd auf den Teller fallen. „Vater!"
„Er ist der Zweitgeborene, Georg. Selbst wenn er sich mit einer bettelarmen Maus einlässt, so muss er wissen, wie er sein zukünftiges Leben zu führen gedenkt. Außerdem wartet die Gesellschaft schon lange auf eine Eheschließung unsererseits. Es wird die Lästermäuler vorerst befriedigen."
„Und warum habt Ihr mir zwei meiner Zukünftigen vergrault?"
Der Graf verschränkte seine Hände und seine Gesichtszüge verdunkelten sich. „Du bist mein Erbe. Die ganze Gesellschaft wird uns anhand der Wahl deiner Braut beurteilen. Und jetzt, wo dein Bruder sich einer Frau zugewandt hat, die nicht unbedingt aus einem Königshaus stammt, wird diese Wahl umso bedeutsamer."
„Ich entschuldige mich." Georg rückte seinen Stuhl zurück und verließ den Raum, was vom Grafen zornig quittiert wurde.
Florentine wurde die Situation zunehmend unangenehm. Sie konnte sich nicht einmal mit Essen ablenken, nachdem sie bereits reichlich gesättigt durch Lady Aisenbergs Diner war und später einen Zirkusauftritt hinter sich bringen musste.
„Ich bitte um Entschuldigung für meinen Sohn, Madame."
Florentine lächelte zögerlich zum Grafen. „Es gibt nichts zu entschuldigen."
Alexander klopfte mit der Gabel an sein Glas, worauf alle Augen sich auf ihn richteten. „Ehe das nächste Familienmelodram die Stimmung endgültig kippen lässt, bitte ich um Euer aller Aufmerksamkeit."
Florentine sah überrascht zu ihm und spürte Lady Aisenbergs Hand, die die ihrige ergriff und sanft drückte. Alexanders Mutter schien keineswegs erstaunt, während Elsa mitten im Kauen innehielt und der Graf sich auf seinem Stuhl neu positionierte.
„Ich hatte die Ehre, die letzten Bälle mit Fräulein Freymar zu verbringen. Wie Ihr alle sehen könnt, ist sie voll der Schönheit und eine sowohl höfliche Dame als auch voll sprachlicher Eloquenz. Ich gedenke nicht zu warten, bis ein anderer seine Augen öffnet und dieser Dame den Hof an meiner statt macht." Er holte eine kleine Schatulle aus seiner Manteltasche und sah zum Grafen herüber. Dieser schien zwar nicht übermäßig begeistert, aber er nickte ihm knapp zu. Madame Arling ergriff den Arm ihrer Tochter in stiller Verzückung und Florentine stand auf, als hätte sie etwas in den Hintern gekniffen. „Mademoiselle Florentine Freymar. So kurz wir uns erst kennen, so sehr habt ihr doch mein Herz für Euch entflammt. Sah ich mich früher als einsamen Künstler in meinem Atelier mein Dasein fristen, so habt Ihr den Glauben an die Ehe in mir geweckt. Sosehr ich daran zweifele, dass ein bindender Vertrag ein Paar stabiler auf Kurs hält, als ein mündliches Versprechen, so fühle ich, dass ein Bund zwischen uns bestärkt, was ohnehin schon ist. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Euch sämtliche Bedenken Eurer selbst Willen zu nehmen und an Eurer Seite zu leben, als gleichberechtigte Partner." Er kniete vor ihr nieder und klappte die Schatulle auf in der ein goldener Ring, mit funkelten Rubinen besetzt, auf seine Befreiung wartete. „Willigt Ihr ein, mich zu Eurem angetrauten Mann zu nehmen?"
Florentine öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Sie knetete die Hände, trat auf der Stelle, während sich ein Sturm aus Gefühlen in ihr aufbaute. Erst zitterten ihr die Beine, die Hüfte und schließlich der ganze Körper. Ein Kribbeln zog in ihr auf, dass sich in stillen Freudentränen auf ihrem Antlitz manifestierte. Ihr Kopf nickte ohne ihr Zutun. Und endlich gelang es ihr, sich aus der Starre zu befreien, die seine Worte in ihr ausgelöst hatten. „Ja", sagte sie, ehe sie es noch einmal lauter wiederholte und ein drittes Mal, in ungebührlicher Lautstärke, bis er sie in die Arme nahm und ihrem Zittern ein Ende bereitete. Respektvoller Applaus brandete durch den Speisesaal, in den sogar die Dienerschaft einstimmte. Nur Georg, der an der Tür erschienen war, stierte voll des Neides auf das glückliche Paar. Doch davon nahm Florentine nur kurz Kenntnis, denn schon wurde sie durch Alexander wieder voll in Besitz genommen, als er ihr das glänzende Schmuckstück über den Finger streifte.
Als alle ihre höflichen Beglückwünschungen persönlich ausgesprochen hatten und Elsa ihre zukünftige Schwester unziemlich umarmt hatte, kehrte verhaltende Ruhe ein, in der Florentine glückselig mal auf den Ring, dann wieder in Alexanders Antlitz sah. Lady Aisenberg bewahrte sie vor allzu großen Gesten des Glücks. Als Florentine nur die Andeutung machte, ihr Gesicht dem von Alexander zu nähern, drückte sie ihr unauffällig auf den Schoß und behielt sie an Ort und Stelle.
„Nun ist es mir fast unangenehm, den Zirkusbesuch für heute gewählt zu haben. Zum Anlass Eurer Verlobung wäre etwas Festlicheres passender gewesen", sagte Graf Arling und katapultierte Florentine aus ihrer Traumwelt.
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Tanz der Stände
Historical FictionTeil 1 der Tanz-Trilogie Auf der Bühne ist Florentine eine Königin, in den Straßen nur eine Frau des niedersten Standes. Die junge Zirkusartistin sehnt sich nach einem Leben fern des Trubels in den sicheren Armen einer Liebeshochzeit. Als Florentin...