Johanna hatte schon ihr zweites Glas Wein hinter sich, doch die beruhigende Wirkung stellte sich nicht ein. Der Ball der Arlings entsprach in Gänze ihrem glanzvollen Ruf. Kerzenleuchter erhellten den schwarzweiß gekachelten Boden, Diener verteilten kleine Köstlichkeiten und ein Pulk aus Musikern füllte den Raum mit ihren Stücken.
Johanna passte nicht zu diesem Glanz, heute weniger denn je. Ihre Mutter hatte sich Mühe gegeben, ihre geröteten Augen so gut es ging zu kaschieren. Doch kein Puder dieser Welt vermochte das Chaos in ihrem Inneren zu beruhigen. Sir Jeverbruch hatte ihr jeglichen Kontakt zu Adam verwehrt. Als sie sich heimlich aus dem Haus stahl, hatte sich ein derartiges Unwetter über ihr entladen, dass sie es nicht wagte, ihm erneut zu trotzen. Das Bargeld der Familie neigte sich dem Ende zu und der Zehnte würde ihre Situation nicht erheblich bessern. In den nächsten Wochen musste Johanna sich einen Gatten angeln oder ihr Vater würde seinen Worten Taten folgen lassen.
„Johanna, alles in Ordnung?"
Elsa hatte sie entdeckt und Johanna setzte ein bemühtes Lächeln auf. „Ein wunderschöner Ball."
„Und der Anlass noch um vieles mehr", erwiderte Elsa, worauf Johanna sie fragend ansah. „Heute werden Florentine und mein Bruder ihre Verlobung verkünden."
Johanna brachte vor Überraschung erst kein Wort heraus. Sie war über alle Maßen überrascht gewesen, als sie von dem kurzfristigen Ball der Arlings gehört hatte. Ihr Vater hatte es als Versuch bezeichnet, den Eklat zu übertünchen. Seiner Meinung nach war heute der beste Moment, den Erstgeborenen der Familie zu umgarnen. Die Familienehre war in Gefahr; eine standesgemäße Heirat könnte von dem Geschehenen ablenken. Doch statt sich in Schande zu verkriechen, stolzierte die Ursache des Eklats stets darauf bedacht, im Mittelpunkt zu sein, über das Fest. Selten hatte Johanna die Edelleute in solchem Maß überrascht und verlegen um eine Reaktion gesehen. Ein bewusster Verstoß gegen jede Etikette löste sowohl Verachtung als auch Bewunderung aus.
Johanna beneidete Florentine, die sichtlich von Glück erfüllt an der Hand ihres Zukünftigen ging. Sie war, dem Anlass entsprechend passend, in ein weißes Kleid mit langer Schleppe gehüllt, welches einem Brautkleid in nichts nachstand. Ihr Verlobter kontrastierte sie mit einem schwarzen, eher matten Anzug. Ihre glücklichen Züge überstrahlten die Neider um sie herum. Obwohl sie die beiden kaum kannte, wünschte sie ihnen alles Glück. Und gleichzeitig beneidete sie sie für ihre ausgelebte Liebe.
„Was sagt dein Vater dazu?"
Elsa beugte sich vor, um unauffällig zu kichern. „Er zittert wie eine Eiche im Sturm. Zwar kommt er für die Hochzeit auf und wird einen kläglichen Brautpreis entrichten, aber er wird Alexander der Familie verstoßen."
„Du wirkst gar nicht unglücklich darüber."
„Warum sollte ich? Sie lieben einander. Ich bewundere Florentine und ihre Durchsetzungsfähigkeit. Und ich respektiere meinen Bruder dafür, dass er seinen Weg geht." Sie sah den beiden versonnen nach, ehe sie ein schelmisches Lächeln auflegte. „Außerdem war es ein Genuss zu sehen, wie eine Frau meinen Vater sprachlos machte. Eine Frau!"
Was für ein Traum. Sich seiner selbst behaupten zu können. Johanna wünschte sich die Stärke, die Florentine zu beseelen schien. „Wie läuft die Ballsaison für dich?", fragte Johanna, um sich abzulenken. „Was ist aus deinem Verehrer geworden, der dir die anderen vom Leib hält?"
Elsa verschränkte die Arme. „Alles ist wunderbar. Mittlerweile bin ich versiert darin, allein durch meine Haltung etwaige Anwerber fernzuhalten. Außerdem hat Florentine mir den Gefallen getan, meinen Marktwert zu senken."
„Aber du musst doch irgendwann heiraten. Und du wirst nicht jünger."
„Das muss ich nicht!" Elsa zeigte auf das glückliche Paar. „Die beiden ehelichen einander, weil sie es wollen, nicht weil sie es müssen. Ich werde nicht irgendjemandes Besitztum, um seine Kinder auszutragen und täglich vereinsamt zuhause zu vermodern, während er dem Reichstag beisitzt."
„Was hast du vor?"
„Ich werde mein Leben führen, wie es mir gefällt – nötigenfalls allein."
Johanna biss sich auf den Daumen. Die Welt um sie herum geriet aus den Fugen. War sie die letzte Frau, die sich dem Willen ihres Vaters ergab? Ihr Blick wanderte über die Menge, wo sich die Frauen in übertriebener Eleganz von den Männern umwerben ließen. Sanfte Augenaufschläge, das zufällige Vorbeugen des Oberkörpers, ein seidenes Tuch, welches ungeschickt zu Boden segelte. Nein, nichts hatte sich verändert.
„Ich muss einen Mann finden", sagte Johanna entschlossen. Elsa mochte ihren Traum leben und auch Florentine konnte sich das vielleicht leisten. Aber für diesen riskanten Weg war sie nicht bereit.
„Das ist einfacher, als du glaubst", meinte Elsa.
„Wie meinst du das?"
„Verführ einen. Vertrau mir, ich weiß es aus erster Hand. Männer denken nur mit ihrem Gemächt."
Johanna lief rot an. „Ich soll mich wie eine Dirne verkaufen?"
„Spätestens in Eurer Hochzeitsnacht werdet ihr ohnehin das Laken teilen. Warum dem nicht vorgreifen?"
Elsas Gedankengang klang abgebrüht. Johanna konnte sich nicht vorstellen, ein Mann würde sich dazu hinreißen lassen, die Tugend einer unverheirateten Dame zu nehmen. Genauso wie keine Frau das jemals zulassen würde. Abgesehen davon, dass es die Familienehre besudelte, konnte sie damit höchstens noch auf eine rangniedrigere Hochzeit aus Mitleid hoffen.
„Wer garantiert mir, dass er mich dann auch heiratet?"
Elsa verdrehte die Augen. „Seine Ehre wird es von ihm verlangen."
„Und wenn er es verleugnet?"
„Ich könnte euch ertappen." Elsa fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
„Das ist teuflisch."
„Du bist in Nöten."
„Aber wohin soll ich ihn führen? Er wird kaum vor allen Leuten ..."
Elsa deutete auf eine Tür gleich neben dem Tisch mit den Getränken. „Das ist ein Lagerraum. Da kommt für gewöhnlich keiner rein."
Johanna ergriff Elsas Hände. „Du rettest mir womöglich das Leben."
„Überleg es dir noch einmal. Ich weiß, deine Familie ist in finanziellen Nöten aber ..."
„Es ist in Ordnung", unterbrach Johanna sie. „Ich habe mit der Hoffnung auf eine Liebesheirat abgeschlossen." Doch das war gelogen. Adam war für immer in ihren Kopf eingebrannt. Aber selbst wenn sie alles hinter sich ließ, konnte sie nicht von ihm erwarten, mit ihr durchzubrennen. Er hatte große Ziele und Träume, außerdem eine Schwester, um die sich niemand kümmern würde. Sie musste ihn vergessen. Und das beste Mittel dazu wäre eine baldige Hochzeit, die sie aus der Obhut ihres Vaters entließ.
Johanna verabschiedete sich von ihrer Freundin und eilte durch die Menge, um Georg ausfindig zu machen. Sie entdeckte ihn mit einem Weinglas in der Hand, wie er die Tochter der Dingelfurths umgarnte. Eine gute Partie, doch dem höflich abweisenden Ausdruck der Dame entnahm Johanna, dass sie sich zierte. Seine Aufdringlichkeit schien ihr unangenehm. Ein anderer Herr, der sie zum Tanz aufforderte, erlöste sie schließlich.
Georg kippte das Glas verdrossen herunter und ehe er sich nach einem neuen Opfer umsehen konnte, stand Johanna neben ihm. Sie musste selbstbewusst wirken und straffte ihre Gestalt, drückte die Schultern nach hinten, sodass ihre Brust gut zur Geltung kam.
„Herr Arling, ganz allein auf Eurem eigenen Ball?"
Er besah sie abschätzend und zuckte die Schultern. „Ich habe meine fehlenden Regungen Euch gegenüber bereits bekundet."
Johanna legte ihren Kopf auf ihrer Hand ab und musterte ihn missfällig. „Ich hege kein Interesse an Euch."
Er hob beide Brauen und wandte sich ihr mit verschränkten Armen zu. „Ihr habt also schon eine gewinnträchtige Partie für Euren Vater gewinnen können?"
„Im Gegensatz zu Euch." Sie sah provokant in Richtung der jungen Dingelfurth, die mit strahlendem Lächeln in den Armen ihres neuen Partners tanzte.
Georg knetete seine Finger. „Ich warte auf die Richtige."
„Die Euch sicher schon bald in die Arme läuft." Sie nahm ihm sein Glas ab und stellte es zu Boden, dabei nahm sie sich Zeit, auf das er einen Blick in ihr Dekolletee werfen konnte. Mit einem vornehmen Lächeln beendete sie die Vorstellung und nahm wieder gebührlichen Abstand von ihm. Sein Blick haftete weiter auf ihrem Busen; sie tat, als fiele es ihr nicht auf.
„Ihr müsst froh sein, bald in festen Händen zu sein", sagte er nach einem Räuspern.
„Wahrlich, ich bin selig. Und doch bedeutet es, auf ewig nur die eines einzigen Manns fühlen zu dürfen."
Georg verengte die Augen eine Spur weit. „So wie es sich für eine Dame von Stand gehört."
„Bei uns im Lande ist es nicht unüblich, dass auch die Frauen ihre Hörner abstoßen, so wie es die Männer der Stadt zu tun pflegen." Sie biss sich zärtlich in ihren Daumen, worauf Georg sich über die Lippen leckte.
„Solch Nachrede hört man des Öfteren über die Burgfräulein. Ihr seid die Erste, die dieses Gerücht offen bestätigt."
„Ihr wirkt vertrauenswürdig."
„Ich sehe keinen Grund, Euch dafür zu belangen, dass Ihr Euch auslebt."
„Denkt Ihr, jemand der Anwesenden käme infrage? Es wäre mir lieber, wenn die Liaisons meiner würdig wäre."
Georg trat von einem Bein auf das andere. „Mit Sicherheit gibt es eine Vielzahl an Männern, die diese Gelegenheit nur zu gerne ergreifen würden. Eine hübsche, junge Blume zu pflücken."
„Dann werde ich Ausschau halten. Einen erfolgreichen Abend wünsche ich, Herr Arling."
Sie wandte sich mit betont desinteressiertem Gesichtsausdruck ab. Kurz darauf hörte sie seine Schritte schon hinter ihr hereilen. Ein berechnendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Männer mochten sie gesellschaftlich dominieren, aber die weiblichen Reize standen weit über ihrem Rang.
Georg war keineswegs zimperlich. Kaum, dass sie sich in den Abstellraum gestohlen hatten, riss er ihr das Kleid vom Leib. Er machte sich nicht einmal die Mühe, mehr als seine Hose herunterzulassen. Johanna war aufgeregt. Sie hasste sich für das, was sie tat und liebte sich für die Macht, die sie in diesem Moment besaß.
Sie hatte sich ihr erstes Mal mit Adam bereits in schillernden Farben vorgestellt. Wie er sie zärtlich küsste, sich an sie schmiegte und sie ehrlich liebte. Die Realität mit Georg sah anders aus. Er würdigte ihren Mund nicht eines einzigen Kusses und drang grob und fordernd in sie ein. Es tat weh und sie war gewillt, ihn von sich zu stoßen, den Plan aufzugeben. Aber es war zu spät. Um ihrer selbst willen spielte sie mit. Sie stöhnte lauter, als es ihr Körper vorgab, schrie eine gespielte Lust heraus, während sie lieber vor Schmerz geächzt hätte. Georg fühlte sich dadurch angespornt und steigerte seine Bemühungen. Sein Atem ging schnell, Schweiß perlte von seiner Stirn.
Die Tür öffnete sich und tauchte das halbdunkle Szenario in grelles Licht.
„Johanna, was ...", sagte Elsa, deren Augen sich entsetzt weiteten. „Georg!"
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Tanz der Stände
Historical FictionTeil 1 der Tanz-Trilogie Auf der Bühne ist Florentine eine Königin, in den Straßen nur eine Frau des niedersten Standes. Die junge Zirkusartistin sehnt sich nach einem Leben fern des Trubels in den sicheren Armen einer Liebeshochzeit. Als Florentin...