Florentine hatte sich fürchterlich benommen. Ihrer Gastgeberin hatte sie plötzliche Übelkeit vorgetäuscht und Alexander gebeten, nach seiner Schwester auf dem Fest zu suchen. Dass sie derweil schon auf dem Weg dorthin war, wo sie Elsa und Laurenz vermutete, hatte sie ihm verschwiegen. Bei ihrem nächsten Treffen war es Zeit für eine ehrliche Entschuldigung.
Sie war versucht, den Weg zu Fuß zu nehmen. Den Hinweg hatten sie derartig bestritten, da eine Kutsche für einen reichen Adligen vielleicht eine Kleinigkeit war, aber Florentine kostete es einen erheblichen Teil ihrer Ersparnisse. Doch da Eile geboten war, nahm sie darauf keine Rücksicht. Laurenz würde ihr das mit Zins und Zinseszins zurückzahlen! Sie trieb den Kutscher zur Eile an, was diesen sichtlich irritierte. Wohl war er es gewohnt, dass die Damen es vermieden, sich allzu sehr durchschütteln zu lassen.
Im Eiltempo polterte das Gefährt dahin, bis sie endlich vor dem Zirkuszelt ankam. Sie sprang förmlich aus der Kutsche, wobei ihr der teure Rock einriss. Umso wütender darüber stapfte sie weitausholend über das Gelände auf ihren Wohnwagen zu. Dieses Mal klopfte sie nicht an, viel eher riss sie die Tür auf und stürzte sich auf ihren Bruder, der eng umschlungen mit Elsa auf ihrem Bett lag. Mit einem wütenden Schrei, der die beiden in Panik versetzte, zog sie ihn von ihr herunter. Ihr Gemüt kühlte sich sichtlich, als sie gewahr wurde, dass Elsa bis auf ihren hervorspringenden Busen angezogen war.
„Was soll das werden?", fragte er.
„Du Bestie! Du Schwein! Denkst du auch mal an mich?!"
„Wieso? Hast du Interesse an ihr?"
Sie schubste ihn aus dem Wagen und er landete hart auf dem Erdreich, worauf er sich sogleich nach hinten abrollte. Eine Spur aus Dreck benetzte sein feines Gewand, indem er mehr schlecht als recht noch steckte.
„Florentine, bitte, beruhige dich!" Elsa kam aus dem Wagen und wollte sie aufhalten, aber Florentine ergriff sie am Saum ihres Kleids und sah ihr wutentbrannt in die Augen. „Du steigst jetzt schleunigst in die nächste Kutsche und kehrst zu dem Ball der Dingelfurths zurück. Und du wirst dir eine wundervolle Ausrede für das hier überlegen!"
Elsa nickte erschrocken, richtete ihre Kleider und notdürftig das Haar, ehe sie das Weite suchte. Laurenz hatte sich mittlerweile aufgerichtet und die Fäuste zur Abwehr erhoben. Aber Florentine war nicht nach Kampf zumute. Eine schwere Last fiel von ihr und machte der Trauer in ihrem Herzen Platz. Sie sackte zu Boden und ließ den Kopf hängen.
„Warum Laurenz? Warum tust du mir das an?"
Ihr Bruder stieß genervt die Luft aus. „Wir haben nur ein wenig geschmust."
Sie hob den Kopf und wäre er auf Armlänge gewesen, hätte sie ihm eine verpasst. „Sie ist eine Adlige und kein Bauernmädchen! Wenn du ihre Ehre besudelst, erwartet dich kein Schlag auf den Hinterkopf, sondern der Kerker!"
„Du klingst wie der Bischof."
Manchmal bewunderte Florentine ihren Bruder für seine Dummheit. Wenn ihr Vater ein Bauer war, dann musste seiner der Dorftrottel höchst selbst gewesen sein. „Erinnerst du dich, als wir in Ilsenburg aufspielten?"
„Als der Ritter den Knecht vor lauter Wut geköpft hat?"
„Und das macht dich nicht nachdenklich?"
„Er hat seine Tochter vergewaltigt."
Florentine stöhnte genervt auf. „Du glaubst, ein einfacher Knecht wagt es, die Tochter seines Herrn in dessen Haus zu vergewaltigen? Die noch dazu ständig von ihrer Zofe umgeben ist?"
In Laurenz Kopf schienen die Mühlräder anzulaufen. „Du meinst, sie wollte das so?"
„Oder hat ihn sogar verführt. Keine Frau von Stand würde zugeben, dass sie sich bewusst ihre Tugend hat nehmen lassen, ausgenommen im Ehebett. Und kein Edelmann würde das von einer wohlerzogenen Tochter annehmen."
„Aber Elsa wollte es so."
„Und vielleicht hat sie den Anstand, dich zu decken. Aber wenn ihr Vater es erfährt oder noch schlimmer, die Öffentlichkeit, wird sie sich für dich oder die Schande entscheiden?"
Er ließ sich auf einem Baumstamm nieder und sah zu Boden. Florentine beruhigte sich zusehends. So sehr sie ihn dafür verachtete, dass er ihr womöglich Alexanders Gunst genommen hatte, er war ihr Bruder. Auch wenn nur zur Hälfte. Sie setzte sich neben ihn und starrte auf den erdigen Boden, der nur stellenweise durch ein Grasbüschel durchbrochen wurde. „Manchmal frage ich mich, ob in all euren Köpfen nichts anderes vorgeht, als der Gedanke an den nächsten Beischlaf."
„Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt", erwiderte er.
„Ich habe Grund zum Trotzen, nicht du!" Sie gab ihm einen freundschaftlichen Schubs.
„Ich mag Elsa – irgendwie."
„Irgendwie?"
„Sie hat etwas Besonderes an sich."
„Ihre Brüste verstecken sich unter mehr Stoff, als bei deinen sonstigen Liebschaften."
„Es besteht keine Möglichkeit, nicht doch mit ihr ..."
„Wenn du sie heiratest. Was ich für unwahrscheinlich halte, nachdem du ein Trampel und sie eine Adlige ist."
„Aber sie will gar nicht heiraten."
Florentine freute sich schon sehnlichst auf ein Essen mit Alexanders Familie, sollte sie überhaupt noch die Möglichkeit erhalten. Die Ehe seiner Eltern musste vorbildlich sein, so begeistert wie ihre Kinder sich in diese stürzen wollten. „Jede Dame von Stand heiratet früher oder später."
„Warum?"
„Damit sie versorgt ist – bei Gott, Laurenz, bekommst du überhaupt etwas mit außerhalb deines Schlafwagens?"
Wie war es wirklich um Elsa bestimmt? Hatte sie sich womöglich in Laurenz verschaut, war es mehr als nur eine Liebelei? Nein, was konnte man an ihrem Bruder schon langfristig finden? Zugegeben, er war witzig und wenn er sich nicht wie ein Strohkopf anstellte, gab er hin und wieder eine halbwegs intelligente Antwort. Als Schwester mit ihm auszukommen, mit ihm ihre Kunststücke zu üben, war überraschend angenehm. Aber mit ihm eine Familie aufzubauen, auf keinen Fall. Andererseits, wenn man genau danach nicht suchte.
„Liebst du diesen Alexander?"
Florentine verengte die Augen. Sie hatte nie mit ihrem Bruder über Gefühle geredet. Abgesehen von eher unzüchtigen Gesprächen darüber, wie viele Männer sie schon im Bett gehabt hatte.
„Ich mag ihn, aber es ist schwierig, jemanden zu lieben, wenn man Angst hat, nicht gut genug für ihn zu sein."
„Das ist doch alles Unsinn. Was macht diese Adeligen zu etwas Besserem?"
Florentine legte den Kopf in die Hände. Diese Frage konnte sie ihm nicht beantworten. Sie kamen auf dieselbe Weise zur Welt. Aber das Wo und von wem machte aus einem Kind einen Prinzen und das andere war dazu verdammt, in der Gosse zu leben. Als sie keine Antwort gab, fuhr er fort: „Ich wollte dir das nicht kaputt machen."
„Ich hätte wissen sollen, dass du nicht so weit denkst. Und auch, dass Elsa Hintergedanken hatte. Immerhin hat sie dich vom ersten Tag angeschmachtet wie ein kleines Mädchen."
Eigentlich musste sie auf Elsa sauer sein. Auf der einen Seite hatte sie ihr geholfen, obwohl sich Florentine fragte, ob es nicht besser gewesen wäre, gleich klare Verhältnisse zu schaffen. Andererseits war sie – so unschuldig sie wirkte – eine durchtriebene Frau, die ihre Beziehung gefördert hatte, um an Laurenz ranzukommen.
„Ich dachte, ihr beide seid auf einem Fest?" Ihre Mutter kam zu ihnen und Florentine bemühte sich um eine fröhliche Miene.
„Wir sind früher gegangen", sagte Florentine, ehe Laurenz sich verplappern konnte.
„Was ist denn mit deinem Kleid passiert?" Ihre Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie hatte ihr von der ganzen Geschichte bisher nichts erzählt. Zu sehr fürchtete sie, dass Johann Wind davon bekam und ihr die Flausen austrieb. Die Kleider hatte sie ihr als Leihgabe einer Schneiderin erklärt. Sie hätte Florentine auf der Seidenweberstraße entdeckt und für so hübsch gehalten, dass sie mit ihr vereinbarte, hin und wieder in ihren Kleidern dort zu prominieren. Zwar hatte ihre Mutter die Stirn in Falten gelegt, ob dieser abstrusen Geschichte, aber Florentines häufige Abwesenheit war ihr Beweis genug.
„Ich wusste gar nicht, dass du auch ein Abkommen mit dieser Schneiderin hast, Laurenz", sagte ihre Mutter, als sie seiner vornehmen Kleidung gewahr wurde, die er rasch wieder halbwegs ordentlich anzog.
Florentine räusperte sich, aber ihre Mutter kam ihr zuvor: „Schon gut. Als junge Frau habe ich auch meine Geheimnisse gehabt. Laurenz, willst du dich nicht herrichten? Du siehst aus wie ein zerrupftes Huhn."
Er schien den Wink zu verstehen und trollte sich in den Schlafwagen.
Ihre Mutter ging ein paar Schritte mit ihr. „Schatz, was ist los? In letzter Zeit wirkst du so fahrig, ständig abgelenkt."
Florentine biss sich auf die Unterlippe. „Warum hast du nie geheiratet, Mama?"
„Es geht also um einen Mann, dachte ich mir." Ihre Mutter lächelte und nahm Florentine in die Arme. „Ich habe den Zirkus immer geliebt. Kein Mann will eine Frau heiraten, die nicht sein Haus hütet."
„Hast du das nie bereut?"
„Als ich mit Laurenz schwanger war und sein Vater über alle Berge, da schon. Es war nicht leicht, mit einem kleinen Kind zu reisen. Zum Glück hat Johann mich nicht davongejagt."
„Du hast mir nie viel über meinen Vater erzählt."
„Weil es mich schmerzt, darüber zu reden."
„Hast du ihn geliebt?"
„Schatz, diese Frage hast du mir schon sooft gestellt. Jedes Mal, wenn ich dir eines deiner Lieblingsmärchen oder eine der griechischen Sagen erzählt habe."
„Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, jemanden zu verlassen, den man wirklich liebt."
Ihre Mutter strich ihr über die Haare und flocht sie zu Zöpfen, wie sie es in Kindheitstagen gern getan hatte. Sie atmete schwer aus, ehe sie sich räusperte. „Es war auch nicht leicht. Ich habe danach nie wieder jemanden so lieben können."
„Ich wünschte, du wärst mit ihm sesshaft geworden."
„Das wäre ich gerne, aber es wäre nicht gut gegangen."
„War er ein Frauenheld, so wie Laurenz?"
Ihre Mutter lachte lauthals und streichelte über Florentines Wange. „Nein, obwohl man es meinen könnte von einem Mann, der sich auf eine nie verheiratete Frau einlässt, die bereits ein Kind hat. Er war ein sehr lieber Mann, ein Gelehrter. Wahrscheinlich hast du deinen störrischen Kopf von ihm. Er wollte mir immer das Lesen beibringen, erzählte mir, wie weit ich es bringen könnte, wenn ich mich weiterbilde."
Florentine sah versonnen zu Boden. Sie hatte angenommen, ihre Mutter hätte eine einmalige Bekanntschaft mit ihm gehabt, so wie bei Laurenz Vater. „Aber er hat dir doch auch das Lesen beigebracht?"
Sie schüttelte den Kopf. „Das Buch, welches ich immer abends herausgeholt habe, war eines seiner Werke. Er hat es mir zum Abschied geschenkt, in der Hoffnung, ich würde irgendwann dieser Kunst mächtig sein und es lesen."
Florentine wollte etwas fragen, aber ihre Mutter kam ihr zuvor: „Bevor du nachhakst, ich habe es nie getan. Einerseits fand ich nie die Zeit dazu, andererseits hatte ich Angst, dass seine Geschichten mich zu sehr an ihn erinnerten."
Florentine war versucht, ihre Mutter in die Arme zu schließen. Gleichzeitig fürchtete sie, es würde sie in ihrem Redefluss stoppen. Wer wusste schon, ob sie sich ihr bezüglich ihres Vaters je wieder öffnen würde? „Kanntest du alle Geschichten, die du mir erzählt hast, auswendig?"
„Das Meiste. Ein wenig habe ich vielleicht dazuerfunden. Dein Vater hat sie mir unendlich oft rezitiert, mit mir darüber diskutiert, über ihre Bedeutung, ihren Wert. Ich dachte, du verdienst es, die Geschichten zu hören, die ihn so faszinierten. Sein Erbe an dich."
Mit einem Mal wollten ihr die Tränen kommen, aber sie beherrschte sich, um ihre Mutter nicht traurig zu machen. Wie gerne hätte sie diesen Menschen kennengelernt. Es klang, als wäre er ein Mann wie Alexander gewesen. Leidenschaftlich in seiner Kunst versunken, ein Denker, jemand, mit dem man Gespräche auf Augenhöhe führen konnte. Nur schüchtern wagte sie eine letzte Frage: „Warum nur hast du ihn nicht geheiratet? So wie du ihn beschreibst, war er ein ehrbarer Mann."
Ihre Mutter lächelte traurig. „Seinetwegen. Auch wenn er kein Adeliger war, so galt er doch als gebildeter Mann, sein Kundenkreis hatte gehobene Ansprüche. Die Liebelei mit mir wurde ihm als Mann verziehen. Aber mich zu heiraten, hätte ihn ruiniert. Er war bereit, das zu riskieren, aber ich nicht, ihm seinen Lebenstraum zu nehmen."
Eine seltsame Leere ergriff Florentine. Sie musste Alexander aufklären, bevor er etwas wahrlich Dummes tat. Wenn er sie heiratete, würde er von seiner Arbeit leben müssen. Wer würde seine Kunst noch kaufen? Von ihm, dem Mann einer Streunerin?
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Tanz der Stände
HistoryczneTeil 1 der Tanz-Trilogie Auf der Bühne ist Florentine eine Königin, in den Straßen nur eine Frau des niedersten Standes. Die junge Zirkusartistin sehnt sich nach einem Leben fern des Trubels in den sicheren Armen einer Liebeshochzeit. Als Florentin...