Kapitel 10-3

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Alexander gab seinem Pferd die Sporen. Der Hengst schnaubte und erhöhte sein Tempo. Er folgte mehreren Wagenspuren nach Westen, in der Hoffnung, es mögen die richtigen sein. Denn vor dem Westtor zeichnete sich ein Wirrwarr aus Linien, Fußspuren und Hufabdrücken ab, dass es unmöglich war, den rechten Weg abzuschätzen. Ein Bauer kam ihm mit seinem Fuhrwerk entgegen und bestätigte ihm, dass er vor wenigen Stunden den Zirkustrupp gesehen hatte. Alexanders Pferd ließ nach gut einer weiteren Stunde den Rücken durchhängen und er führte es am Zaumzeug.
Der Abend brach herein und sein Magen knurrte. In der Eile hatte er keinen Proviant eingepackt. Hoffentlich fiel er nicht in die Hände von Wegelagerern. Was für ein trauriges Ende, wenn sie ihm die Kehle aufschlitzten, nicht glaubend, dass er nicht einen einzigen Pfennig bei sich trug. Doch sein Anzug brächte sogar gebraucht sicher zehn Gulden ein – eine gelungene Beute im Vergleich zu einem Ballen Heu oder der Börse eines Bauern.
Die Nacht folgte dem Abend auf schnellem Fuße und Alexander dankte dem Mond für seine Leuchtkraft, die ihn nicht völlig vom Wege abkommen ließ. Trotz der wachsenden Müdigkeit blieb er nicht stehen. Die Nacht war kalt und am Boden zu schlafen, mochte ihm den Tod bringen. Außerdem musste er Zeit aufholen. Die schweren Wägen des Zirkustrupps kamen nur langsam voran, aber sie hatten mehr als einen Tag Vorsprung. Als ihm die Beine wie Blei wurden, setzte er sich erneut in den Sattel. Sein Pferd hatte sich in der Zwischenzeit ausgeruht und galoppierte in gewohnter Manier voran. Alexander klammerte sich an den Hals des Tieres, um nicht womöglich von einem überhängenden Ast abgeworfen zu werden. Sein Reittier schien seinen Weg auch bei Nacht zu finden. Das stete Ruckeln des Pferderückens verhinderte, dass er in mehr als nur Dösschlaf geriet. Trotzdem schreckte er ein ums andere Mal auf, als er beinahe vom Pferd fiel.
Ein ferner Feuerschein weckte seine Lebensgeister. Entweder hatten Räuber dort ihre Lager errichtet und er ritt auf sein Ende zu oder er hatte es vollbracht und seine Liebste eingeholt. Ein Kreis aus Wohnwägen, deren Konturen er im Feuerschein vage ausmachte, erfüllte seine kühnsten Träume. Einige waren noch aus dem Altbestand der Truppe, ein paar weitere waren eilends zugekauft geworden.
Er ließ sein Pferd auf der nahen Wiese zurück zum Grasen. Selbst wenn es ihm davonlief, das kümmerte ihn nicht mehr. Seine Beine waren steif und nur der blanke Wille trieb ihn an, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Am Feuer saßen die Spielleute trinkend und singend. Zwei Männer führten einen Tanz auf, während der Zirkusdirektor auf der Fiedel spielte. Laurenz saß neben einer älteren Frau auf einer einfachen Holzbank, doch Florentine konnte er nirgends ausmachen. Furcht ergriff sein Herz beim Gedanken, was mit ihr geschehen sein könnte. Hatte sie womöglich Reißaus aus dem Leben genommen?
Er lief auf die Gruppe zu, worauf Johanns Fiedel verstummte und der Mann ihn anstierte. Alexander packte Laurenz Schultern, wollte ihn gerade nach Florentine befragen, da schlug Laurenz schon nach dem Unbekannten aus.
„Bei Gott Laurenz, hör auf! Das ist der Sohn des Grafen!", schrie Johann, worauf Laurenz verdutzt zu seinem Opfer hinuntersah.
„Was schleicht Ihr Euch an, wie ein Bandit?"
Alexander schüttelte den Taumel ab und ergriff Laurenz dargebotene Hand, an der er sich emporzog.
„Was ist mit Florentine passiert? Warum ist sie nicht bei dir?"
„Sie ist im Bett", erwiderte Laurenz nüchtern. „Solltet Ihr das nicht auch sein? Mit Eurer Frau?"
„Wo?"
„Das könnt Ihr nicht machen. Sie ist in Trauer, lasst sie in Frieden."
„Ich werde sie von ihr nehmen."
„Florentine ist nicht so eine!" Laurenz packte ihn am Revers, aber Alexander reagierte kaum darauf. Die Frau, die eben noch neben Laurenz gesessen hatte, legte ihm die Hand auf die Schultern. „Junge, lass gut sein."
„Er wird ihr nur wehtun!"
„Ich habe nicht geheiratet, Laurenz."
Er blinzelte ihn verwirrt an. „Also seid Ihr gekommen um?"
„Um Florentines Hand anzuhalten."
Die Frau an Laurenz Seite trat vor und musterte ihn von oben bis unten. Schließlich nickte sie mit breitem Lächeln und deutete auf einen der Wägen. „Eure Zukünftige wartet da drinnen auf Euch, junger Herr."
Alexander senkte dankbar den Kopf und folgte ihrem Deut. Aller Anwesenden Augen waren auf ihn gerichtet. Er wünschte sich, sie würden einfach fortfahren, so tun, als wäre er gar nicht da. Schon ohne ihre Aufmerksamkeit fühlte er sich unbehaglich. Er klopfte zögerlich an, worauf eine genervte Stimme von drinnen sagte: „Als ob ich den Wagen zusperren würde."
Er nahm das als Aufforderung einzutreten. Florentine saß auf ihrem Bett im Schneidersitz, den Rücken zur Tür. In Erwartung ihres Bruders drehte sie sich nicht einmal um. Trotz der Schlichtheit des Inneren erstrahlte der Wagen in farbenprächtigem Glanz. Florentine hatte bereits angefangen, ihr neues Zuhause mit Malereien zu verzieren. Verworrene Muster, die wahrscheinlich ihre innere Zerrissenheit widerspiegelten. Einzig direkt auf Augenhöhe war sie gerade dabei, etwas Konkretes zu verbildlichen. Alexander gönnte sich einen Augenblick, sie in ihrer Vertiefung zu beobachten. Ihr langes Haar fiel offen über die Schultern, das einfache Leinenunterhemd gab den Blick auf eine Fülle an weißer Haut frei und zuletzt begutachtete er ihr aktuelles Porträt. Gerade malte sie seine Haare, probierte verschiedene Farbmischungen aus, um den richtigen Ton zu treffen. Sie legte nachdenklich den farbverschmierten Finger an das Kinn.
„Vielleicht hilft es dir, wenn ich Modell stehe."
Ihre Hand verharrte in der Bewegung. Langsam drehte sie sich um, der Blick wankend zwischen Bangen und Hoffnung. Sie musterte ihn von oben bis unten in seinem feinen Anzug und Alexander sah die Scham ob ihres eigenen in ihre Züge kriechen.
„Ich habe dich vermisst", sagte er.
„Du solltest nicht hier sein." Sie ging vom Bett, stellte den Tiegel auf einer Ablage ab und legte sich ihre Decke über die Schultern.
„Wo sonst wenn nicht bei meiner geliebten Frau?"
Sie musterte kritisch seinen Aufzug. „Deine Frau dürfte die Wärme ihres Manns in ihrem Ehebett missen."
„Ich weiß es nicht, tut sie das?"
„Ich habe keine Lust auf solche Spielchen." Sie wandte sich ab und er ergriff ihren Arm.
„Ich habe sie nicht geheiratet."
„Was ist mit der Weisung des Herzogs?"
„Johanna hat die Ehe verweigert. Ich habe meine Pflicht erfüllt."
Florentine blinzelte verwirrt. „Dann bin ich also deine Notlösung."
„Bitte Florentine, du irrst dich." Er nahm sie in den Arm und sie ließ es widerstandslos zu, doch hing nur willenlos in seinem Griff. „Ich habe einen Fehler gemacht, als ich dich ziehen ließ. Ich fühlte mich verletzt und ungeliebt. Erst später wurde mir klar, dass ich mit aller Gewalt um dich kämpfen sollte, doch da war das Versprechen schon gegeben."
Hinter ihren Augen arbeitete es. Ihr Gesicht spiegelte miteinander streitende Gefühle. Doch schließlich obsiegte eines. Sie atmete tief ein und wieder aus. „Es ist meine Schuld", sagte sie tonlos.
Er war versucht, die Verantwortung zu tragen, doch weder fühlte er sich wach genug, um sich zu streiten, noch glaubte er, gegen ihre Eloquenz zu bestehen. „Nehmen wir es auf unser beider Kappe und beenden das. Völlig egal, ich habe mich für dich entschieden und ich werde mich nicht zurückweisen lassen. Ich verzichte auf mein Erbe. Meinetwegen reise ich mit euch und werde ein fahrender Künstler. Oder ich arbeite als Clown und jongliere in der Manege. Doch niemals werde ich dich wieder gehen lassen!"
Er spürte die Feuchte ihrer Tränen, die sein Hemd durchdrangen, und ergriff sie fester. So standen sie eine Weile, während er einerseits von Glück beseelt war und andererseits die Müdigkeit ihn fragen machte, ob all das hier echt war.
„Du wirst nicht auf die Grafschaft verzichten", sagte sie, als sie sich von ihm löste und die Tränen wegwischte.
„Deine Worte stoßen auf Granit!"
Sie verdrehte die Augen und ging zu einer kleinen Anrichte, aus der sie ein gesiegeltes Pergament entnahm. Ungläubig starrte Alexander auf den Schrieb, den sie ihm entgegenhielt, der Florentine in den Stand einer Edelfrau erhob.
„Wie bist du ..." Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Während ihr Männer eure Politik im Vordergrund mit lauter Stimme tut, ziehen Frauen im stillen Kämmerchen die Fäden eurer Glieder."
Er schüttelte ungläubig den Kopf, ehe er vor ihr abkniete. „Es ist mir eine Ehre, meine Dame."
Florentine lächelte schelmisch und legte ihm die Hand auf den Kopf. „Ihr dürft Euch erheben, gnädiger Herr und Eure Dame in ihre Bettstätte begleiten."
Mit letzter Kraft verfrachtete er sie ins Bett und legte sich keuchend neben sie. Er fühlte sich erlöst und selig, spürte seine Müdigkeit langsam von ihm Besitz ergreifen. Derweil nestelte Florentine ungehemmt an seinem Anzug herum und befreite ihn von ebendiesem.
„Ihr verhaltet Euch äußerst unziemlich für eine Frau Eures Stands."
„Wenn ich mich recht entsinne, haben wir unsere Ehe bereits vollzogen. Somit erwarte ich nur, Eure Pflicht als mein Gemahl zu erfüllen." Sie zog ihm die Hose herunter und Alexander spürte seine Erregung gegen die Erschöpfung seines Körpers ankämpfen. Er mühte sich um eine aufrechte Position, doch Florentine schob ihn sanft zurück, lehnte sich über ihn und küsste ihn. Sie setzte sich rittlings auf seinen Schoß und ließ ihr Kleid an sich hinuntergleiten. Schweren Atems fuhr sein Blick über ihren Körper. Seine Hand reckte sich nach ihrer Brust, worauf Florentine erzitterte.
„So sehr ich dich begehre, meine Liebste. Ich fürchte, ich bin nicht imstande, dir heute noch zu Diensten zu sein."
Sie fuhr ihm mit dem Finger über die Lippen, glitt am Hals entlang bis zu seinem Brustkorb. „Nun mein lieber Gemahl. Ich denke, es wird Zeit, dass die wahre Herrin des Hauses auch in dieser Beziehung die Führung übernimmt." Damit hob sie ihr Becken über das seine. Quälend langsam senkte sie sich auf ihn, ehe sie sich in einem gemeinschaftlichen erlösten Seufzer vereinten.

Tanz der StändeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt