Kapitel 5-3

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Die nächsten Tage über konzentrierte Florentine sich auf ihre Arbeit. Ihre Vorstellung kam nach wie vor gut an und an manchen Tagen öffnete Johann sogar zwei Mal, um dem Andrang Herr zu werden. Die Erfahrung lehrte sie, dass ein Strohfeuer genauso schnell aufflammte, wie es wieder erstickte. Daher bereitete Johann die Gruppe darauf vor, zur nächsten Stadt zu reisen, sobald die Zuschauerzahlen nachließen. Das erinnerte Florentine wieder an Alexander. Sie hatte das Gefühl, handeln zu müssen, und wusste doch nicht wie. Was hatte Elsa zuhause erzählt und wie hatte Alexander Florentines plötzliches Verschwinden aufgenommen?
Wenn sie nicht in der Manege stand, verbrachte sie ihre Zeit mit Laurenz beim Üben. Er war sichtlich geknickt darüber, dass sie unter seinem Verhalten litt. Doch sie beschwichtigte ihn. Es war ohnehin nur der Traum eines einfachen Mädchens gewesen. Prinzen heirateten Prinzessinnen. Sie suchten nicht nach der Maid, die zuhause Linsen aus der Asche sortierte.
War sie mit ihren Übungen fertig, half sie ihrer Mutter beim Flicken von Kleidern oder striegelte mit Frieda die Pferde. Ein ums andere Mal ließ sie Florentine auch reiten. Dann drehte sie eine kleine Runde um den Platz. Genug Vertrauen, um auf dem Tier Kunststücke aufzuführen, hatte Florentine nicht.
An einem wenig arbeitsreichen Tag ging sie früh ins Bett und starrte an die rotbraune Decke. Wie lange hatte sie nicht mehr gemalt? Als sie mit Alexander malte, war es ihr, als entdecke sie sich selbst wieder. Ihre erste, große vermeintliche Liebe hatte die Begeisterung für die Kunst in ihr geweckt. Wieder und wieder hatte sie ihren winzigen Besitz dafür ausgegeben, sich die teuren Farben zu kaufen, um das Innere ihres Wagens damit zu bemalen. Sie hatte damals erwartet, er würde ihr den Hof machen und um ihre Hand anhalten. Aber viel eher bedrängte er sie von Tag zu Tag mehr.
Ihre Ma hatte ihr gesagt, das wäre normal. Sie könne wählen, ob sie als alte Jungfer sterben oder ihre Würde bewahren wolle. Florentine hatte sich für ihre Würde entschieden. Ihre Beziehung hatte damit geendet, dass ihr Freund es nicht bei Worten beließ und sie mit Taten überzeugen wollte. Mit einem derben Tritt hatte sie ihn davon abgebracht. Danach hatte sie ihre Kunst wutentbrannt übermalt und keinen Finger mehr in einen Farbtiegel gesteckt. Mittlerweile bildeten sich bereits Spalten innerhalb der Bilder, wo die Kanten der Holzbretter aneinander rieben.
„Frohe Nachrichten!", sagte Laurenz, als er die Tür schwungvoll aufzog.
Florentine presste ihren Kopf in das Kissen. „Ich will nicht wissen, wen du heute wieder bestiegen hast."
Er setzte sich neben sie auf die Bettkante und tätschelte ihr den Rücken. „Du liegst völlig falsch, Flo."
Stöhnend drehte sie sich zur Seite und pustete sich eine Locke aus dem Gesicht. „Also gut, erhelle mich, liebster Bruder."
„Ich war bei den Arlings."
Florentine klappte das Kinn herunter und sie starrte Laurenz an, bis er ihr schmunzelnd das Kinn nach oben drückte.
„Es war nicht schwer, ihr Anwesen zu finden. Diese Grafenfamilie muss unheimlich reich sein. Sie sind bekannt wie ein rosa Pudel."
Sie richtete sich hastig auf. Tausend Fragen schossen durch ihren Kopf, die alle zugleich hinauswollten. In ihren Gedanken entstand ein Handgemenge darum, welche Worte zuerst ihren Weg durch ihren Mund finden durften, was zu einem unverständlichen Gebrabbel führte. Er hielt ihr sanft die Hand auf den Mund und beförderte zwei mit goldenen Lettern verzierte Briefe aus seiner Westentasche. Erst jetzt bemerkte Florentine, dass er einen völlig neuen Anzug trug. Sie griff nach dem bläulichen Material der Weste. Sie war von feinster Machart.
„Elsa hat gelogen wie eine Füchsin und eine dramatische Geschichte um unser Verschwinden erfunden. Ihr ging es schlecht und ich brachte sie heldenhaft zum Arzt. Graf Arling lobte meinen Heldenmut so sehr, dass er es sich nicht nehmen ließ, mir einen neuen Anzug zu schenken. Immerhin ist mein anderer bei der heroischen Tat in Mitleidenschaft geraten."
Florentine packte ihn am Kragen. „Was ist mit Alexander?!"
Er löste sanft ihre Finger von dem feinen Zwirn und hob beruhigend die Hände. „Ich konnte ihm verständlich ausdrücken, dass du dir große Sorgen um uns machtest und nicht auf ihn hattest warten können."
„Ich entschuldige mich vielmals, dass ich je an dir gezweifelt habe, Bruderherz." Sie schloss ihn in seine Arme und drückte ihn übermäßig.
„Eine Sache wäre da noch."
„Was es auch ist, jetzt kann mir nichts mehr die Laune verderben."
Er deutete verschmitzt lächelnd mit dem Zeigefinger auf sie.
„Was ist es?", fragte sie beunruhigt.
„Wir haben Eindruck gemacht. Eine Lady Aisenberg hat uns zu ihrem Ball eingeladen. Da sie nicht wusste, wo wir wohnhaft sind, hat sie die Einladung den Arlings gegeben."
„Wird Alexander dort sein?"
„Ja, er hofft, dich dort zu treffen."
Florentine packte ihr Kissen und presste es an sich. Alles würde sich zum Guten wenden. „Wann findet der Ball statt?"
Er machte erneut diese für sie schwer zu deutende Geste. „Er ist heute."
Sie sah aus dem Fenster, wo sich der Abend schon langsam gegen den Tag durchsetzte.
„Wann genau?"
„Auf dem Rückweg sprach mich diese unheimlich hübsche Frau an."
„Wann – fängt – er – an?"
„Er hat bereits angefangen."
Florentine zögerte nicht einen Moment. Sie widerstand dem Drang, Laurenz zu rügen, und war sofort bei Elsas Kleiderkiste. Keine Zeit sich zu überlegen, womit sie ihn beeindrucken sollte. Laurenz half ihr, so gut es ging, während sie sich aus ihren Sachen schälte und in ein grünes Kleid hineinschlüpfte. „Wie kommen wir dorthin?"
„Der Graf hat uns eine Kutsche zur Verfügung gestellt."
„Dann los." Sie zerrte ihn äußerst ungalant hinter sich her, ein paar Bänder in ihrem Mund, um auf dem Weg ihre Haare zu bändigen. Die Kutsche mit den aufgemalten Greifvögeln stand unweit des Zelts und kaum waren sie eingestiegen, fuhren sie los.
Während Laurenz aus dem Grinsen nicht mehr herauskam, fummelte Florentine an ihren Haaren herum, flocht die ungekämmten Locken zu Zöpfen, um ihre mangelnde Vorbereitung zu kaschieren.
„Spätestens jetzt wäre ich mir sicher, dass du diesen Kerl liebst."
Sie hielten vor einem Nebeneingang des Herzogsschlosses. Das sandfarbene Gebäude ragte drei Stockwerke in die Höhe. Darüber thronten vier Türme, die sich aus dem rotgedeckten Dach erhoben und in Fahnenmasten endeten. Vor dem Palast standen marmorne Büsten und ganze Statuen von gegenwärtigen und vergangenen Edelleuten auf meterhohen Säulen. Florentine riss sich von dem Anblick los und eilte auf das Portal zu, das in einen kleineren Anbau führte.
„Ist Lady Aisenberg die Herzogin selbst?"
Laurenz nahm sie am Arm und führte sie. „Nein, aber ihre Bälle finden hier statt."
Am Eingang angekommen, zeigte er ihre Einladung dem Portier, der sie hereinbat. Florentine drehte sich mit fragendem Blick zu ihrem Bruder um. „Kommst du nicht mit?"
Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Wir wollen doch sichergehen, dass es dieses Mal nicht zu einem Zwischenfall kommt."
Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe sie den Ballsaal betrat. Wenn das Haus der Dingelfurths ihr groß vorgekommen war, dann war dieser Raum gigantisch. Sofort fühlte sie nach Laurenz Hand, doch griff ins Leere. Die gewaltigen Ausmaße ließen sie sich klein und unwichtig fühlen. Sie suchte Halt an einer Wand. Der Saal war rechteckig angelegt mit abgerundeten Ecken. Auf der taghellen Tanzfläche, die von einer schier unmöglich zu zählenden Menge an Kerzen und Essen erhellt wurde, wogten die Kleider und feinen Mäntel wie ein Meer aus schillernden Farben umher. Die Decke war mit goldgeränderten Mustern verziert und spiegelte die rechteckigen Formen auf dem glänzenden Boden. Rund um die Tanzfläche erhoben sich meterhohe Säulen, die auf goldumringten Sockeln thronten und in reich geschmückte Kapitelle übergingen. Über dem Erdgeschoss fand sich eine zweite Etage, die die untere einrahmte. Auf der Balustrade lugten weitere, reichgekleidete Herrschaften auf die tanzende Menge hinab. Florentine war vom Anblick der Tänzer völlig eingenommen, ehe sie aus ihrer Fassungslosigkeit gerissen wurde.
„Mademoiselle Freymar, endlich ist es mir vergönnt, Euch persönlich kennenzulernen."
Eine Frau um die vierzig Jahre, vielleicht auch älter, in einem schwarzen Kleid, trabte gemessenen Schrittes auf sie zu. Sie war eine würdevolle Erscheinung, behangen mit dezentem Schmuck, ein Diadem auf ihrer hochgesteckten Frisur. „Wo habt Ihr Euren Bruder gelassen? Ich hörte, seine Eleganz gleicht der Schönheit, die man Euch nachsagt?"
Florentine machte einen höflichen Knicks. „Er bittet um Verzeihung, er fühlt sich nicht wohl."
„Sehr bedauerlich. Mein Name ist übrigens Aisenberg."
„Ich danke Euch vielmals für Eure Einladung." Florentine verneigte sich erneut und kam sich trotzdem unhöflich vor, wo ihr Blick doch immer wieder zur Seite schweifte und nach Alexander suchte. Heute würde sie reinen Tisch machen. Sie würde ihm die Entscheidung überlassen. Ihre Mutter mochte das Richtige getan haben, indem sie ihren Liebsten um seinetwillen verließ. Aber was hatte er von seinem gut betuchten Leben, wenn er wie sie voller Herzschmerz sein Dasein verbrachte? Wenn Alexander sich für sie entschied, würde sie lieber ein ärmliches, glückliches Leben mit ihm führen, als ihm ewig nachzutrauern.
„Es ist mir eine Freude, Euch hier zu begrüßen. Der jüngere Herr Arling hat mir bereits so viel von Euch erzählt."
„Ihr kennt Alexander? Ich meine, Herrn Arling?"
„Natürlich, wer tut das nicht? Er war mir eine große Stütze, als ich hier in der Gegend Handelsaktivitäten aufbaute."
Florentine konnte sich vorstellen, dass Alexander an ihr Gefallen gefunden hatte. Scheinbar war Lady Aisenberg keine Dame, die ihre Zeit damit vertrieb, zuhause zu sitzen und sich Handarbeiten zu widmen. Viel eher eine Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahm. Das machte sie auch für Florentine sympathisch.
„Wie ich sehe, hat er Euch schon entdeckt", sagte die Lady.
Florentine folgte Aisenbergs Fingerzeig. Von der Seite kam Alexander auf sie zu, zwei Diener mit einem großen Karton begleiteten ihn. Er verneigte sich ehrerbietig vor der älteren Dame und gab Florentine einen Handkuss.
„Ihr habt ein Händchen dafür, zu früh zu gehen und zu spät zu erscheinen, Fräulein Freymar", sagte er mit einem spöttischen Glitzern in den Augen.
„Was für eine Begrüßung, ich bitte Euch, Alexander", pikierte sich Lady Aisenberg.
Florentine lächelte verzeihend. „Es ist schon gut, Madame, das ist unsere Art miteinander zu scherzen."
„Nun, wenn ihr beiden bereits so vertraut seid."
„Ich muss Euch etwas sagen. Können wir unter vier Augen ...", setzte Florentine an und ergriff seinen Arm, doch er schüttelte entschieden den Kopf.
„Zuvor muss ich Euch etwas zeigen." Er gab den Dienern einen Wink, die den glänzenden Karton öffneten, worin sich in rubinrotem Schimmern das Ballkleid offenbarte, das sie bei ihrer ersten Begegnung in der Seidenweberstraße entdeckt hatte.
Florentine musste an sich halten, um nicht laut aufzuschreien. Er hatte es ihr gekauft. Dieses sündhaft teure Stück Stoff, das einer Königin würdig wäre. Ehrfürchtig berührte sie es, als könne es unter ihren Fingern zu Staub zerfallen. Was für eine herbe Enttäuschung es für ihn wäre, wenn sie ihm sagte, dass dieses Kleid weit über ihrer Würde sei.
„Erinnert Ihr Euch an Euer Versprechen?", fragte Alexander.
Sie schniefte und fuhr sich über die Augen. „Wie könnte ich es vergessen?"
„Dann erwarte ich, dass Ihr Euch heute nicht verfrüht entfernt."
„Ich kann das nicht annehmen."
„Ich bestehe darauf."
„Wir müssen reden."
Alexanders Kopf ruckte ein Stück zurück und Lady Aisenberg ging beschwichtigend dazwischen. „Die Dame ist überfordert. Gebt Ihr einen Moment, mein Herr. Kommt, lasst uns in das Umkleidezimmer gehen. Selbstverständlich könnt Ihr ein solches Geschenk nicht einfach ablehnen." Ihre Art zu sprechen, duldete keine Widerworte und Florentine folgte ihr eine Treppe zur Rechten hinauf, die in ein überschaubares Ankleidezimmer führte. Die Lady übernahm den Kerzenleuchter eines Dieners und schickte sämtliche Bediensteten hinaus, nachdem das Kleid auf einem Beistelltisch abgelegt wurde. Sie zündete selbst die Beleuchtung in dem Raum an und ließ sich auf einem gepolsterten Sofa nieder.
„Und jetzt reden wir, mein Kind."

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