Kapitel 2-1

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Elsa stand mit ihrer Zofe Marianne in einer, sich bis zur Kaserne windenden, Schlange von Menschen. Von hinten wurden sie angerempelt, von vorne zurückgedrängt und stetig quetschten sich Passanten durch den Menschenstrom.
„Wir hätten früher kommen sollen", sagte Marianne, die den Hals reckte.
„Nein, es ist wunderbar", erwiderte Elsa. All die Menschen, die zur Mittagszeit ihr Tagwerk liegenließen, nur um hier zu sein. Sich in der prallen Sonne anstellten, schwitzend und stinkend, fluchend und gestikulierend, nur um einen Platz in der heutigen Vorstellung zu finden. Der Zirkus musste sein Geld wert sein. Es gab keine Sondereingänge für Höhergestellte, keine Möglichkeit, sich mit einer Spende einen besseren Bereich zu ergattern, sie war unter Gleichen. Unter Menschen, die die Gedanken an die vergangenen Jahre hinter sich ließen und der Ausschweifung frönten.
Zwar war der Krieg an ihr spurlos vorbeigezogen, aber auch Elsa hatte Abstriche gemacht. Ihre Eltern hatten es jahrelang nicht gewagt, die sicheren Stadtmauern zu verlassen. In der Stadt war es ihr trotz ihres herrschaftlichen Hauses furchtbar eng und öde vorgekommen und sie hatte sich nach ihrem Anwesen auf dem Land gesehnt. Der Zirkus war eine gelungene Abwechslung, bevor sie in den Sommermonaten wieder in die Grafschaft zurückkehrten.
„Ob wir überhaupt einen Platz bekommen?"
„Nötigenfalls stehen wir eben."
Marianne sah sie verdutzt an. „Stehen, junges Fräulein? Das wäre ungebührlich."
Elsa lachte hinter vorgehaltener Hand. „Darum sorgst du dich jetzt noch?"
„Ihr habt Recht, all dies hier ist ungebührlich. Wenn Euer Vater das erfährt, jagt er mich über die Äcker." Sie fuhr sich zum sicher fünfzigsten Mal mit den Händen die Wangen entlang. Dabei war ihre Sorge völlig unbegründet. Elsa hatte sich in die einfachsten Gewänder geworfen, die sie in ihrem Fundus auftreiben konnte. Ein altes Leinenkleid, das sie nur zu Ausflügen in die Natur zu tragen pflegte und einen weiten Wollüberwurf, dessen Kapuze ihr über die Stirn fiel. Marianne selbst hatte genug Kleidung, die für Bürgerliche angemessen war. Immerhin war sie eine von ihnen, wenngleich sie unter Adeligen lebte.
Die Schlange rückte quälend langsam voran, aber Elsa störte sich nicht daran. So hatte sie die Gelegenheit, sich die Umgebung Eichenthals anzusehen. Für gewöhnlich mieden sie diesen Ortsteil, wenn sie mit der Kutsche stadtauswärts fuhren. Der Adel wählte lieber die überfüllte Königsstraße, statt den Dunst der Gerberhütten, der selbst hier vom Fluss herüberwehte, einzuatmen. Allerlei Händler nutzten die Gunst der Stunde und priesen ihre Dienste dem wartenden Volk an. Ein Schuhmacher gab an, dass er die Sohlen zu richten vermöge, noch ehe die Vorstellung begann, ein Kesselflicker bot Hausbesuche feil und ein Bäckergeselle verkaufte Brotlaibchen aus seinem Bauchladen. Endlich waren sie an der Kasse angelangt und bezahlten den Preis für zwei.
„Sind denn überhaupt noch Sitzplätze frei?", fragte Marianne.
Der Kassier sah sie mit verkniffenen Augen an. „Wenn kein Platz mehr ist, mach dir welchen. Nächster!"
Die Besucher hinter ihnen schoben sie nach vorne, sodass Marianne keine Gelegenheit mehr fand, weitere Fragen zu stellen. Das Innere des Zelts ließ Elsa staunen. Von außen hatte sie schon gesehen, dass es aus verschiedenfarbigen Stoffbahnen bestand. Die Sonne durchdrang das Tuch mit sanftem Schein und tauchte die Zuschauerreihen in farbigen Glanz. Es war gerade hell genug, um nicht über die eigenen Füße zu stolpern, aber doch zu schummrig, um jegliches Detail wahrzunehmen. Einzig die Bühne, ein Halbrund aus gestampfter Erde mit Sand versetzt, war taghell erleuchtet. Im Zentrum der Zeltdecke befand sich eine Auslassung, die reines Tageslicht bis zum Boden vordringen ließ.
Die Zuschauertribünen verliefen in bogenförmigen Bahnen rund um die Manege. Die besten Plätze, jene, von denen man gerade auf die Bühne sah, waren bereits besetzt. Trotzdem drängten weitere Menschen dorthin, um sich vor Ort um das letzte Fingerbreit zu streiten.
„Wir gehen besser da entlang." Marianne deutete nach links. Dort blockierte ein Holzmast teilweise die Sicht, weswegen der Andrang geringer war. Elsa hätte sich allzu gerne in die Massen geworfen, aber sie wollte ihrer Zofe nicht noch mehr Kummer bereiten. Sie suchten sich eine Stelle möglichst nah an der Bühne. Ein kleines Mädchen machte ihnen Platz und schnupperte interessiert, kaum dass sie Elsas Parfum wahrgenommen hatte. Elsa lächelte ihr zu.
Je mehr Menschen das Zelt stürmten, desto dünner schien die Luft zu werden. Nach einer Weile stiegen Elsa die verschiedensten Düfte von Schweiß, über Alkohol bis hin zu Ausdünstungen menschlicher Hinterteile in die Nase. Marianne reichte ihr ein Taschentuch, dass sie sich vor die Nase hielt. Der Adel pflegte es, seinen Körpergeruch mit allerlei Duftwässerchen zu kaschieren. Doch selbst die feinsten Leute hätten in diesem Gedränge zu stinken begonnen.
Ungeachtet des fehlenden Platzes drängten sich weitere Zuschauer auf die voll besetzten Bänke. Marianne schimpfte auf grobe Kerle ein, die sich ihr aufdrängten, aber wenn sie sich eine höfliche Entschuldigung erwartet hatte, lag sie falsch. Die Mutter des Mädchens neben Elsa nahm ihre Jüngste auf den Schoß, damit sie von dem Berg an Leibern nicht zerquetscht wurde. Elsa bot der älteren Schwester ebenfalls ihren Schoß an, was diese mit freudigem Lächeln annahm. Die Mutter nickte ihr dankend zu. Marianne gab sich pikiert, sagte aber nichts mehr.
„Es ist erstaunlich, wie die Menschen sich hier benehmen. Keiner hält Abstand zu seinem Nächsten, als wären sie alle Brüder und Schwestern."
Marianne rümpfte die Nase. „Im Gedränge fällt es nicht auf, wenn man zufällig den Busen seiner Nachbarin streift."
„Du tust so, als wäre das Bürgertum völlig frei von Sitte."
„In Massen werden alle Menschen wie Tiere."
Würde sie womöglich wirklich jemand unsittlich berühren? Im Kreise ihrer sonstigen Bekannten wäre das eine Undenkbarkeit.
„Wie reagiere ich, wenn mir Derartiges widerfährt?"
„Schlagt aus oder tretet ihm gegen das Schienbein und nehmt das Ganze als Vorbereitung auf Eure Hochzeitsnacht."
Hochzeit, ein Gedanke, den Elsa eher mied. Es würde die Zeit kommen, da sie ihre Pflicht erfüllen musste. Einen Gatten finden, ihm zu Diensten sein und seine Kinder austragen. Aber solange ihr Vater nicht darauf beharrte, würde sie dem aus dem Weg gehen. Um nichts in der Welt wollte so leben wie ihre Mutter. Da schien es ihr angebrachter als Bedienstete eines hohen Hauses zu enden und nicht einmal das Geld zu besitzen, um zu heiraten.
„Ist es unter den Bürgerlichen üblich, einander vor der Ehe zu berühren?"
„Die Kirche ahndet alle gleich, die ihr Weib verfrüht besteigen. Doch wird es hier nicht sofort als Eklat innerhalb der Gesellschaft gewertet. Viele warten lange, bis sie sich eine Heirat überhaupt leisten können."
„Aber was, wenn der Mann sich dann entscheidet, die Frau doch nicht zu ehelichen?"
Marianne lachte verhalten. „Kein Mann hier würde erwarten, dass eine Frau ihre Unschuld bis zur Ehe bewahrt. Genauso wie keine Adelige darüber überrascht ist, dass ihr Gatte schon Übung im Bett hat."
Elsa errötete, ob der Worte ihrer Zofe. Die Umgebung ließ ihre Zunge lockerer werden, als Elsa es von ihr gewohnt war. Eine Gelegenheit, die sie ausnutzen musste. Immerhin waren derlei Gespräche in ihrer Familie undenkbar. Man würde sie in eine Klosterschule stecken, deutete sie auch nur an, dass sie sich nachts selbst berührte.
„Diese Freiheit muss schön sein. Jemanden beizuliegen, ohne sich gleich auf Lebenszeit zu verpflichten."
„Kommt bloß nicht auf dumme Gedanken, mein Fräulein!"
Der Vorhang lüftete sich. Ein vielfarbig gekleideter Darsteller mit Gehstock stolzierte auf die Bühne. Er zückte seinen Zylinder und verbeugte sich vor der Menge, ehe er das Publikum mit eindringlicher Stimme begrüßte, bis auch der letzte Maulheld still war. Noch immer drängten vereinzelte Zuschauer in das Zelt. Teilweise nahmen sie auf dem Boden Platz oder stellten sich anderen ins Sichtfeld, was zu kurzfristigen Reibereien führte. Elsa fühlte sich wie ein Tier, welches in einen zu engen Käfig eingesperrt wurde. Auf seltsame Weise gefiel ihr das sogar.
In bunten Kostümen und ausgefallen geschminkt kamen die verschiedensten Gestalten auf die Bühne. Ein Clown, der mal unbeholfen über die Bühne daherwackelte und im nächsten Moment erstaunliche Jonglierkünste zeigte. Ein grober Kerl, der Feuerlohen aus seinem Mund zu speien vermochte, was das Publikum in panische Begeisterung versetzte. Ihm folgten zwei Darsteller, die in chaotisch zusammengesetzten Rüstteilen einen keineswegs ernstgemeinten Kampf ausfochten. Dabei stellten sie sich mal geschickt wie Fechtmeister, dann plump wie Kleinkinder an. Elsa wankte zwischen Lachen und ernsthafter Begeisterung in der Erwartung, wer den clownesken Kampf für sich entscheiden würde. Schließlich obsiegte jener, der das Siegel des Herzogs auf der Brust trug. Er demütigte den anderen, indem er ihm mit dem Hintern vorm Gesicht wackelte. Aus dem Hintergrund erscholl ein Geräusch, als erleichtere sich der Ritter. Elsa hielt sich die Hände vor den Mund. Was für eine grandiose Obszönität!
Den wackeren Helden folgte eine grazile Frau in einem hauteng geschnürten Kleid, die auf einem Schimmel geritten kam. Die Frau ritt ohne Sattel mit wehendem Rock. Zu Beginn saß sie auf dem Pferd, kurz darauf stand sie oben und das Ross verfiel in langsamen Trab und zu guter Letzt führte sie verschiedenste Figuren aus, die zu beschreiben Elsa schwerfiel. Einmal balancierte sie auf ihren Unterarmen, dann auf den Händen, verrenkte sich, sodass es Elsa schon beim Zuschauen in den Gelenken schmerzte. Wenn sie an sich selbst dachte, die sich kaum mit einem ordentlichen Sattel auf einem Pferd halten konnte, überkam sie blanker Neid. Stürmischer Applaus folgte, als die Künstlerin Küsse in alle Richtungen werfend hinausritt.
„Ich beneide die Frauen darum, dass sie sich ihren Beruf aussuchen können", sagte Elsa.
„Ihr werdet an der Seite eines gewichtigen Edelmanns stehen und könnt es Euch sparen, Euch den Buckel krumm zu arbeiten."
„Und wenn mir der Gedanke nicht gefällt?"
„Andere würden Euch darum beneiden."
„Andere haben zumindest die Wahl."
Marianne seufzte auf. „Wären Eure Sorgen nur die meinen."
Den Abschluss der Vorstellung stellte ein Paar dar. Sie waren ähnlich alt, was an sich schon eine ungewöhnliche Kombination war. Elsa war es gewohnt, blutjunge Frauen mit greisen Herren zu sehen. Aber diese hier lagen nur ein paar Jahre voneinander entfernt. Die Frau trug ein Kleid, welches einer Edelfrau würdig wäre. Ihre blonden Locken waren zu einer kunstvollen Frisur geflochten und ihr Gang dermaßen aufrecht, dass Elsa Marianne sicherheitshalber fragte, ob sie vielleicht doch eine Adlige sei.
„Keine Eures Standes träte jemals in einem Zirkus auf", antwortete ihre Zofe unwirsch. „Diese Menschen sind Künstler. Sie arbeiten tagtäglich, um etwas darzustellen, was sie nicht sind. Sie mühen sich ab, wie Edelleute zu wirken."
„Glaubst du, die beiden sind Geliebte?" Der Mann umwarb die Frau aufs kühnste, wenn nicht gar dreiste Art und Weise. Mal mit einer Rose auf Knien bettelnd, dann schnappte er sie sich stürmisch und zog sie heran. Schließlich gab sie seinem Werben nach und sie vollführten gemeinsam berauschende Hebefiguren. Elsa hielt die Luft an. Nicht nur, weil sie die Kraft des Artisten bewunderte, sondern auch, weil er seine Partnerin offen vor aller Leute Augen an der Hüfte berührte. Und das war noch einer der schicklicheren Orte, an den er seine Hände zu platzieren pflegte.
„Ob sie sich lieben?"
„Das kann ich Euch nicht sagen."
„Ich würde sie gerne kennenlernen."
Marianne sah sie argwöhnisch an. „Schlagt Euch das aus dem Kopf. Schlimm genug, dass ihr Euch diese groteske Anbiederung anseht."
„Ich finde es romantisch."
Ihre Zofe schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Oh Gütiger, bewahre mich vor Euren Flausen."
Elsa bewunderte diese wunderschöne Frau und wünschte sich, an ihrer Stelle zu sein. Wie es wohl wäre, von diesem muskulösen Mann mit dem offenstehenden Hemd berührt zu werden? Ihr Blick verharrte auf ihm, beobachtete das Spiel seiner Muskeln, den grimmig konzentrierten Ausdruck in seinen Augen. Sie redete sich ein, dass die beiden nur schauspielerten, genauso wie die Darsteller zuvor. Ihre Gedanken schweiften ab und sie ertappte sich dabei, sich selbst an seiner Seite zu sehen. Ein Kribbeln zog sich von ihrem Unterleib bis hinauf zu ihrer Brust.
„Junges Fräulein?!"
Elsa schrak zusammen. Sie war in Gedanken versunken. Marianne sah sie irritiert an und Elsa schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. Als sie den Blick wieder auf die Bühne warf, stellte sie enttäuscht fest, dass das Paar sich bereits verneigte. Der Zirkusdirektor löste die beiden mit abschließenden Worten ab und schloss die Veranstaltung. Auf dem Heimweg schwärmte Elsa noch lange nach der Vorstellung für die wunderschöne Frau und – was sie ihrer Zofe nie verraten würde – viel mehr für den stattlichen Mann. Sie musste ihn wiedersehen – auch wenn sie sich dafür allein in den Zirkus stehlen würde.

Tanz der StändeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt