Kapitel 6-1

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Florentine sah sich unschlüssig um. Das Umkleidezimmer war elegant eingerichtet, voller bequemer Möbel mit reichlich verzierten Kissen und Deckchen. An den Wänden hingen Bilder vornehmer Frauen in weiten Kleidern. Es gab zwei hohe Kleiderschränke und an der gegenüberliegenden Wand einen mannsgroßen Spiegel nebst einer Anrichte, die zum Schminken des Gesichts gedacht war. Ein ausladender Teppich dämpfte ihre Schritte.
„Worüber wünscht Ihr zu sprechen, Madame?"
„Das Wichtigste zuerst. Kümmern wir uns um Eure Garderobe", erwiderte die Lady.
Florentine sah sie nur unschlüssig an.
„Worauf wartet Ihr? Entkleidet Euch." Sie sagte das so selbstverständlich, dass Florentine instinktiv gehorchte. Sie löste die vorderseitige Schnürung ihres Mieders und ließ es auf eins der Sofas gleiten. Hiernach legte sie ihre Weste ab und schlüpfte aus dem Kleid. Nur in ihren Unterkleidern, die keineswegs von derart feiner Machart waren, wie sie einer Adeligen würdig waren, stand sie vor der Lady. Vor Unwohlsein schlang sie die Arme um ihren Körper.
„Es gibt nichts, wofür Ihr Euch schämen müsstet." Umständlich erhob sie sich und ging um Florentine herum. „Ihr achtet auf Eure Sauberkeit, aber ihr nutzt kein Parfum."
Das stimmte nicht ganz. Sie wusch sich regelmäßig mit einem Schwamm ab, den sie in, mit wohlriechenden Kräutern versetztes, Wasser tauchte. Ein Parfum, wie es die Adligen aufzutragen pflegten, besaß sie allemal nicht.
Die Lady befühlte ihre Oberarme. „Ihr habt Muskeln wie eine Bäuerin, die Hände einer Dame und die Haltung einer Königin. Eine Tänzerin vielleicht? Nein. Keine Hupfdohle bedarf solcher Arme."
„Eine Artistin", sprach Florentine es energisch aus. Ihr Körper war unter Spannung, als erwarte sie einen Peitschenhieb. Sie hatte es ausgesprochen. Aber was bedeutete es schon? Diese Frau hatte sie wahrscheinlich vorher durchschaut und ersparte ihr die peinliche Musterung in Gegenwart ihrer Bediensteten.
„Setzt Euch."
Florentine folgte ihrem Deut und nahm am Frisiertisch Platz. Die Lady trat hinter sie, griff nach einer Bürste und fuhr ihr durch die Haare. „Ihr ward wohl in Eile?"
Florentine nickte, unwissend, wie sie auf diese Behandlung reagieren sollte. Eine Adlige frisierte sie, eine Frau weit unter ihrem Stand. Sie konnte nicht anders, als sie gewähren zu lassen. Die Lady steckte unter Zuhilfenahme von Bändern, Spangen und filigranen Drähten ihre langen Haare zu einer fast unterarmhohen Frisur auf.
„Viele Damen würden Euch um diese Pracht beneiden. Manch eine hilft mit künstlichen Haarteilen nach, um nur annähernd diese Fülle zu erreichen."
„Wo habt ihr so etwas gelernt?"
„Wenn man jahrelang selbst seine Frisur den gesellschaftlichen Zwängen anpassen muss, lernt man so etwas eben."
„Ihr ward ..."
„Wie Ihr. Vielleicht nicht unbedingt aus dem fahrenden Volk, aber nicht von höherem Stand, wie ich es jetzt bin."
„Warum nennt man Euch Lady?"
Aisenberg lachte verhalten. „Als ich nach Königsfels kam, hielt man mich für eine exotische Dame aus Übersee. Ich gab mir diesen Titel selbst, um dieses Gerücht zu befeuern. Keiner würde eine derartige Reise nur des Nachforschens wegen auf sich nehmen."
„Wie ist es Euch gelungen, die Kluft der Stände zu überwinden?"
„Durch harte Arbeit. Die hohen Herren brauchen ständig Geld, um ihre Kriegskassen zu füllen. Steckt genug Münzen in den richtigen Beutel und Ihr könnt alles haben, selbst ein Geburtsrecht, das Euch nicht zusteht. Das ist der harte, aber sichere Weg. Ihr scheint mir eher dem leichtsinnigen, gefährlichen zugetan."
Florentine sah in ihr eigenes Antlitz, das Trauer und Beschämung widerspiegelte. Lady Aisenberg puderte ihr Gesicht, sodass es eine ebenmäßigere Farbe gewann.
„Ich hielt ihn für einen Bürgerlichen."
„Die Liebe unterscheidet nicht zwischen Adel, Bürger, Bauer oder gar Leibeigenem, mein Kind. Ich mache Euch keinen Vorwurf." Die Lady ging vor ihr in die Hocke, sodass sie ihr direkt in die Augen sah. „Alexander hat mir von Euch erzählt. Ihr habt Schneid und insbesondere Persönlichkeit, etwas, was manche Dame der feinen Gesellschaft missen lässt. Auch vermittelt Ihr nicht den Eindruck, als wolltet Ihr Euch an ihm bereichern."
„Ich möchte ihm heute die Wahrheit offenbaren!", platzte es aus ihr heraus.
Lady Aisenberg verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie edelmütig, Ihr wollt ihm alles erzählen. Baut Ihr darauf, dass er Euch der Liebe willen dennoch heiratet?"
„Das verlange ich nicht von ihm."
„Aber Ihr wünscht es Euch."
Florentine scharrte mit dem Fuß über den Boden.
„Spart Euch die Romantikerin. Die Heiratspolitik der großen Häuser ist ein eiskaltes Geschäft. Der Graf von Arling wird keine Artistin in seine Arme schließen und ihr die Hand seines Sohnes geben."
Der Vortrag der Lady war Florentine, als tauche sie ihren Kopf in kaltes Wasser. Erwartete sie von ihr, berechnet vorzugehen, das Spiel ewig fortzuführen?
„Lady Aisenberg, wollt Ihr, dass ich ..."
„...das Richtige tue? Nein. Denn Ihr sprecht von einer moralischen Wahl. Liebe hat nichts mit Moral gemein. Es mag sein, dass Alexander Euch in einem Rausch der Leidenschaft seine Hand verspricht, aber zuerst müsst Ihr seine Familie für Euch gewinnen, damit sie ihm diese Flausen nicht wieder austreiben."
„Wie kann ich behaupten, ihn zu lieben, wenn ich ihm etwas vormache?"
„Wie könnt ihr Selbiges behaupten, wenn Ihr ihn ruiniert?"
„Gerade das will ich doch verhindern."
Lady Aisenberg nickte mit einem kritischen Lächeln. „Ihr seid in aller Munde, Fräulein. Ihr taucht aus dem Nichts auf, löst Spekulationen aus, welchem Land Euer Geschlecht entspringen mag. Euer Bruder entführt die junge Arling auf dem Ball der Dingelfurths."
„Sie fühlte sich unwohl."
„Oh, ihre Wangen waren sichtlich gerötet, doch ihr Gang ließ auf anderes schließen." Die ältere Dame legte ihr die Hand mit festem Griff auf die Schulter. „Solange ihr besitzend und edel erscheint, wird niemand auf die Idee kommen, in fernen Adelsregistern Euren Namen zu erforschen. Doch wenn Ihr plötzlich verschwindet oder sich Euer Verhalten drastisch ändert, werden die Gänse schnattern und die Wölfe auf Raubzug gehen."
„Ihr meint, ich würde Alexander in Verruf bringen?"
Lady Aisenberg löste sich von ihr und lachte leise, während sie sich dem roten Ballkleid zuwandte und es in die Höhe hielt. „Alexander könnte sich wohl herausreden, einen Scherz getrieben, sich die Hörner an einem hübschen Ding abgestoßen zu haben. Aber die junge Elsa wird in Verruf geraten, ihre Tugend an einen dahergelaufenen Bauern verloren zu haben." Sie wickelte das Kleid über ihren Arm und trat an Florentine heran, sah mit erhabenem Ernst auf sie herunter. „Spielt das Spiel weiter, Fräulein. Um euretwillen, um der Liebe Willen und um der jungen Elsa Willen. Ihr seid, Gott weiß, nicht die Erste, die sich über ihren Stand erhebt. Verspielt diese Gelegenheit nicht aus scheinbar edelmütigen Gründen."
Während die Lady sie einkleidete, erzählte Florentine ihr alles. Es fühlte sich einer Beichte gleich an. Erleichterung überkam sie, da die Lady ihr zwar voller Ernst zuhörte, jedoch durchaus auch schmunzelte, wenn Florentine ihr ihre fast kindlichen Sorgen mitteilte. Doch ein Problem blieb. Alexander würde erwarten, sie heute nach Hause zu begleiten. Sie hatte es ihm versprochen; es gab kein Zurück. Auch wenn die Lady ihr ihren Beistand versprach, konnte sie daran doch nichts ändern.
Als Florentine sich im Spiegel betrachte, kamen ihr beinahe die Tränen. Das Bild, das sich ihr im Kerzenschein offenbarte, entsprach ihren Vorstellungen einer Prinzessin über alle Maßen. Für einen Moment vergaß sie ihre Probleme und badete in dem Gedanken, dass ihr Prinz sie gleich bei der Hand nähme und zum Ball geleitete.
„Ihr seid wunderschön. Ihr verdient den Platz unter den Höchsten, mein Kind."
Eine halbe Stunde später traten sie Hand in Hand aus dem Umkleidezimmer. Die Zeit schien stillzustehen. Als hätte die lästernde Menge nur auf diesen Moment gewartet, drehten sich alle Köpfe in Richtung der Treppe. Selbst die Musik, die sich gegen die Ruhe stemmte, verstummte in Florentines Ohren. Ihre weiten, mehrlagigen Röcke schleiften über den Boden und sie war dankbar für Lady Aisenbergs Führung. Diadem und Halskette aus der Ladys Bestand warfen regenbogenfarbige Punkte auf die freskenschweren Wände. Florentine fuhr mit der freien Hand über die wellenförmige Borte ihres Kleids, auf der eine Wiese voll aufgestickter Rosen erblühte, die in weiten Ranken bis hinab zum Rocksaum verliefen. Zierliche Spitze umsäumte sowohl das mit Schleifen verzierte Mieder, als auch ihre filigranen Handschuhe.
Am Ende der Treppe erwartete sie Alexander, der ihr den glänzenden Chiffonschleier zurückstrich, sodass er sich beiderseitig ihrer hochgesteckten Frisur wie schwebendes Wasser legte. Florentine fuhr ihm sanft über das Kinn und half ihm dabei, seinen Mund wieder zu schließen, über den er die Kontrolle verloren zu haben schien.
„Mein Herr, wollt Ihr Eure Begleitung nicht zum Tanz auffordern?", fragte Lady Aisenberg in verhaltenem Tonfall, ehe sie in die Hände klatschte und lauter zur Menge fortfuhr. „Was starrt Ihr die Dame mit Affenaugen an? Das ist ein Ball, ich möchte Euch tanzen sehen!"
Der Bann war gebrochen. Zwar wagte noch immer der ein oder andere einen Blick auf Florentine, doch die Autorität Lady Aisenbergs verbot ihnen, sie allzu deutlich zu begaffen.
„Ich hörte übrigens von Eurer hübschen Vereinbarung, Eure Liebste heute Abend höchstpersönlich nach Hause zu führen", meinte Lady Aisenberg zu Alexander. „Dann spare ich mir eine Kutsche."
Alexander legte den Kopf schief. „Wollt Ihr uns etwa begleiten?"
„Keineswegs, wir haben denselben Weg. Gerade eben erörterte ich mit Frau Freymar ihren Familienstammbaum und welch glückliche Fügung: Eine ihrer entfernten Tanten mütterlicherseits ist mit meinem Bruder liiert. Ich würde uns fast als Verwandte bezeichnen. Daher habe ich entschlossen, das junge Fräulein ihres Gasthofs zu entführen und sie in mein Anwesen einzuladen, solange ihr Besuch in der Stadt andauert."
Alexander sah die Lady genauso überrascht an, wie Florentine es in diesem Moment tat.
„Was ist, Frau Freymar? Missfällt Euch mein Vorschlag?"
Florentine ergriff die Hände der Lady und schüttelte den Kopf. „Keinesfalls. Mit größtem Vergnügen statte ich Euch einen Besuch ab."
Alexander wedelte mit dem Zeigefinger. „Ihr Frauenzimmer verschwört euch jedes Mal aufs Neue gegen mich." Er ergriff Florentines Hand und zog sie näher zu sich. „Ihr erlaubt doch, Lady Aisenberg, dass ich diese hübsche Dame auf die Tanzfläche entführe?"
„Ich bestehe sogar darauf, der Herr."
Der herzogliche Ballsaal war von derlei gigantischem Ausmaß, dass, trotzdem scheinbar der gesamte Adel Königsfels zugegen war, genug Platz zum Tanzen blieb. Mittlerweile hatte Florentine die meisten Tänze so weit inne, dass sie selbst mit dem langen Kleid problemlos mit Alexander Schritt hielt. Der Tanz mit ihm gab ihr ein beinahe familiäres Gefühl. Es erinnerte sie an die Verbindung mit ihrem Bruder, wenn sie ihre akrobatischen Elemente übten. Jede seiner Bewegungen fand zeitgleich mit einer der ihren statt. Im Takt der Musik schwangen sie sich aufeinander ein, wurden eins. Als lenke ein einziger Verstand ihre beider Körper. Sie fühlte sich ihm nahe wie nie, vergaß sämtliche Grenzen, die zwischen ihnen zu sein schienen.
„Erinnerst du dich an unser erstes Treffen?", fragte er.
„Ein Mann mit Spazierstock sprach mich von der Seite an."
„Du standest vor meinem Lieblingsgeschäft."
„Das reicht für dich, um eine Frau interessant zu finden?"
„Deine Ausstrahlung hat sicher etwas dazu beigetragen."
Sie kicherte verhalten. „Also war es von Anfang an dein Plan, mich zu umgarnen?"
„Nein, ich wollte herausfinden, was eine Frau vor einem Maleratelier sucht."
„Und dafür verfolgtest du mich die Seidenweberstraße entlang?"
„Ich bin solche Distanziertheit mir gegenüber nicht gewohnt."
„Ich habe also deine Ehre verletzt." Florentine hob amüsiert die Brauen, worauf er sie drehte und nah an sich heranzog.
„Was war der Grund dafür?"
„Schlechte Erfahrungen."
„Ich bin geneigt, diese gegen erfreulichere auszutauschen."
„Sprich nicht in Rätseln."
Er hielt sie an beiden Händen. Die Musik spielte weiter, der Rest der Menge tanzte an ihnen vorbei. Sie standen im Mittelpunkt des Ballsaals. Sein Mund kam dem ihrigen nahe, als er die nächsten Worte hauchte: „Ich liebe Euch, Frau Freymar."
Sie wollte antworten, doch er gebot ihr mit der Hand zu schweigen. „Ich weiß, Ihr haltet Euch meiner nicht würdig. Und der Grund dafür ist mir einerlei. Es ist mir egal, ob Euer Vater etwas gegen unsere Verbindung einzuwenden hätte oder Ihr Euch selbst denunziert. Ich möchte, dass Ihr meine Familie kennenlernt. Ich will Euch meiner Mutter vorstellen."
Florentine wusste nichts darauf zu erwidern. Ihre Gedanken rasten nur so dahin. Vor kurzem noch hatte sie den Glauben an die Liebe verloren. Sie war sich sicher gewesen, dass Männer sie nur auf ihren Körper reduzierten. Wie einfach all das hier sein könnte, wenn sie vom selben Stand wären. Wie leicht sie sich ihm völlig offenbaren könnte, sämtliche Höhen und Tiefen, Ängste und Sorgen mit ihm teilen könnte. Lady Aisenberg hatte recht. Sie musste diese Liebe ergreifen, statt sich ihrer aus moralischen Gründen zu erwehren. Sie spürte, wie Alexander ihr mit einem Taschentuch über die Augen tupfte.
„Darf ich diese Gefühlsregung als Ja deuten?"
Florentine setzte ein tapferes Lächeln auf. „Ihr dürft."
Der Abend schien ewig zu währen. Sie tanzten unermüdlich unter dem gestrengen Blick des Herzogs und seiner Gemahlin, die aus einem übermannsgroßen Gemälde auf sie herabsahen. Florentine hatte die Menge endgültig für sich gewonnen. Eine Schar von Männern bat um einen Tanz mit ihr, doch sie wusste sich ihren Ambitionen zu widersetzen. Es war ihr egal, ob sie dadurch unhöflich wirkte. Für den Moment lebte sie ihren Traum, zelebrierte sie bereits die glückliche Ehe an der Seite ihres Auserwählten. Und sie würde keinen Augenblick davon missen.


Tanz der StändeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt