Kapitel 1

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CARLA

"Post ist da!" Luna kam mit einigen Briefen ins Esszimmer geflogen, in dem wir wie jeden Morgen zusammensaßen. Sie liebte es, die Post zu holen und sie dann fliegend an die jeweiligen Familienmitglieder zu verteilen, sodass das zu einem morgendlichen Ritual geworden war.
"Es ist erschreckend, wie viel Post wir bekommen", murmelte Camilo neben mir. "Wenn es wenigstens irgendwas Wichtiges wäre!"
"Ist es doch! Wir bekommen Briefe von den Bewohnern, wenn sie ein Problem haben, uns aber nicht finden können!", widersprach Mirabel ihm.
"Dann sollen sie hier warten und uns nicht mit Papier zustopfen!", brummte er.
"Beruhige dich, Cousin. Du musst nicht so viel lesen, von dir wollen die meisten eh nichts. Genauso wenig wie von mir", wandte ich ein und lehnte mich entspannt zurück. Ich bekam zwar oft Briefe von meinem festen Freund Luca aus Medellín, den ich wie verrückt vermisste, aber die Bewohner wollten nur selten meine Hilfe. Wahrscheinlich fühlten sie sich unwohl damit, dass ich jeden ihrer Gedanken hörte, wenn ich in der Nähe war. Zugegeben, ich fühlte mich dabei auch etwas unwohl. Es fühlte sich so an, als würde ich in der Privatsphäre anderer herumschnüffeln, obwohl ich das nicht einmal bewusst machte oder gar wollte! Die Details über das Liebesleben von Señora Londra wären mir zum Beispiel wirklich gerne erspart geblieben! Ich schüttelte beim Gedanken daran den Kopf, als Luna mich ansah.
"Dein Schatz hat geschrieben", neckte sie mich grinsend und hielt mir einen Brief hin.
"Oh, Luca hat geschrieben? Ich will mitlesen!", rief Estrella aufgeregt und beugte sich zu mir, um mit in den Brief sehen zu können. Seitdem die Kleinen lesen gelernt hatten, waren sie noch neugieriger geworden. Ich musste die Kiste mit Lucas Briefen mittlerweile verschließen, weil sie sie sonst ständig öffneten und unsere privaten Briefe lasen! Ich drückte den Brief an mich.
"Das ist MEIN Freund und MEIN Brief, ja? Du hast ihn nicht zu lesen!", wehrte ich sofort ab.
"Ihr könnt bei Papá mitlesen, amores", wandte Mamá ein, bevor Estrella einen Streit anfangen konnte. "Dann könnt ihr uns mal zeigen, wie gut ihr schon lesen könnt."
"Das machen sie doch sowieso die ganze Zeit", murmelte Camilo.
"Ja, und es nervt", flüsterte ich ihm leise zu, weil Abuela sonst wahrscheinlich sauer werden würde, weil ich die neuen Fähigkeiten meiner Schwestern nicht wertschätzte. Sobald die Kleinen Papás Brief vorlasen, öffnete ich Lucas Brief und nahm das Papier heraus.

Hola, mi querida,

Ich schreibe dir, weil ich tolle Nachrichten habe. Es gibt einen Nachfolger für mein Restaurant hier in Medellín, sodass ich mir nach Absprache mit meinem Chef ein anderes Restaurant zum Leiten suchen kann. Ich habe darüber nachgedacht, aber um ehrlich zu sein, habe ich stattdessen einfach gekündigt. Ich weiß jetzt nämlich, was ich wirklich machen will. Ich möchte zu dir ziehen, nach Encanto, und dort ein Restaurant für die Bewohner eröffnen. Es wird natürlich niemanden auch nur einen Cent kosten, ich will den Bewohnern nur etwas zurückgeben. Jeder darf dort arbeiten, der es möchte und ich muss dringend mit deiner Abuela darüber sprechen. Es ist schließlich ihre Gemeinde und ich möchte mich dort nur ungern reinzwängen. Ich werde in einigen Tagen hier losreiten und dann komme ich endlich wieder zu dir, mi amor. Ich habe dich so schrecklich vermisst!

Ich liebe dich und wir sehen uns bald, mi vida!
Luca

Luca würde hierher ziehen?! Wir würden endlich zusammen sein können! Vor Freude konnte ich mich nicht kontrollieren und schrie auf, während mir fast Tränen in die Augen stiegen. Mein Freund würde endlich nicht mehr fünf Stunden entfernt wohnen! Meine ganze Familie sah mich erschrocken an.
"Carlita, geht es dir gut?", fragte Mamá nach, ich nickte schnell.
"Ja, sehr gut sogar! Luca hat geschrieben, dass er hierher zieht! Er will hier ein kostenloses Restaurant für alle eröffnen! Abuela, er kommt in ein paar Tagen und würde deswegen gerne mit dir sprechen!", antwortete ich aufgeregt und konnte mich vor Freude und Aufregung kaum auf dem Stuhl halten. Abuela lächelte leicht und nickte.
"Natürlich, er kann jederzeit einfach vorbeikommen", erwiderte sie. "Ich höre mir seine Vorschläge gerne an."
"Danke, Abuela, du bist die Beste!" Ich stand auf, um sie umarmen und ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie lachte.
"Schon gut, Carla", wandte sie ein und tätschelte meine Hand. "Setz dich wieder hin und iss etwas, dein Luca kommt ja erst in ein paar Tagen." Ich nickte und setzte mich wieder hin, während ich nicht mit Lächeln aufhören konnte. Ich würde Luca endlich wiedersehen! Nach einem knappen Jahr! Wir hatten uns das letzte Jahr lang nur schreiben können, weil er mit seinem Beruf zu beschäftigt gewesen war, um vorbeizukommen und Abuela ließ mich ja nicht weg. Und Mamá und Papá auch nicht, weil sie befürchteten, dass die Zwillinge mir sonst wieder folgen könnten. Also hatten Luca und ich uns Briefe geschrieben und dass er jetzt endlich wieder herkommen würde, freute mich übermäßig. Wir würden endlich wieder zusammen sein können! Camilo grinste mich an und verwandelte sich kurzerhand in Luca, um mir verschmitzt zuzugrinsen und mit mir zu flirten. Ich verdrehte die Augen und sah ihn an.
Wegen einem Jungen flippt die so aus! So würde ich nie wegen einem Mädchen ausflippen... Na ja, vielleicht bei Belén, aber ansonsten nicht.
Ich begann ebenfalls zu grinsen. Belén war ein junges Mädchen aus dem Dorf, von dem wir schon lange die Vermutung hatten, dass Camilo sich in sie verguckt hatte. Und jetzt hatte ich den Beweis.
"Camilo, noch so eine Verwandlung, um mich zu ärgern und ich erzähle Belén, dass du Hals über Kopf in sie verschossen bist!", drohte ich, worauf sein Grinsen verschwand und er sich zurück in sich selbst verwandelte.
"Ich bin nicht in Belén verschossen!", wehrte er stur ab, aber ich konnte sehen, dass er leicht rot wurde.
"Sag was du willst, Cousin, aber ich hab es gehört!", widersprach ich ihm und grinste.
"Nichts hast du gehört, du Schnüfflerin!", fauchte er gereizt, drehte sich aber weg, damit wir nicht sehen konnten, wie rot er geworden war. Ich lachte darüber bloß.
"Papá, das Wort kann ich nicht lesen!", sagte Estrella da, die sich sofort wieder Papás Brief zugewandt hatte, nachdem ich erzählt hatte, was Luca geschrieben hatte.
"Ich kann es!", rief Luna und schob sie zur Seite, um besser in den Brief sehen zu können. "Nein, kann ich doch nicht." Ich verdrehte die Augen. Dass das Lesen bei ihnen immer in einen Wettkampf ausarten musste!
"Das ist ja auch ein schwieriges Wort, amores. Es heißt Feldertrag", erwiderte Papá. "Wir müssen das Lesen wohl noch ein bisschen üben, oder?"
"Ja, bitte! Gleich nach dem Frühstück!", rief Luna begeistert. "Machst du auch mit, Mamá?"
"Ja, ich bleibe dabei", stimmte Mamá zu und sah mich an. "Willst du auch dazukommen, Carla?" Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, ich hab keine Zeit", lehnte ich ab. Ich musste mein Zimmer aufräumen, wenn Luca bald kommen würde! Es sollte alles perfekt sein, wenn er endlich wieder herkam!

Ich brauche dich, Bruno 5 - Verzweifelte Hoffnung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt