Kapitel 19

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CARLA

Es vergingen Tage, in denen Papá in seinem Zimmer blieb und wir ihm über die Ratten etwas zu essen aus der Küche brachten. Nicht mal nachts kam er raus, zumindest bekam es keiner mit, und die Zwillinge vermissten ihn ungemein - genauso wie Mamá und ich natürlich. Die Zwillinge traf es nur wesentlich härter und deswegen verbrachten sie fast den ganzen Tag hinter den Wänden und kümmerten sich um Papá. Dolores hatte natürlich mitbekommen, was los war, aber wir hatten ihr befohlen, es geheim zu halten, damit Abuela sich nicht aufregte. Sie schien zufrieden damit zu sein, dass Papá weg war, zumindest sagte sie nichts gegen sein Verschwinden. Ich war deswegen so sauer auf sie, dass ich mich zurückhalten musste, um sie nicht ständig anzuschreien, besonders, weil ich ihre Gedanken ununterbrochen hören konnte. Sie kümmerte sich nicht um diese Familie, kein kleines Bisschen. Sie kümmerte sich nur um ihren Ruf und das Dorf, um mehr nicht! Sie liebte diese Familie nicht mal ansatzweise so sehr wie Papá!
Carlita, sag das nicht! Deine Abuela liebt Bruno, das weiß ich genau! Sie macht sich einfach nur Sorgen, um die ganzen Beweise, die es gibt!
Ach ja, tat sie das, Abuelo Pedro? Es gab gar keine handfesten Beweise, nur lose Indizien, die gar nichts bewiesen! Luca und ich verbrachten den ganzen Tag damit, durch die Wälder und das Dorf zu streifen, um uns nach jemandem umzusehen, der uns unbekannt oder verdächtig vorkam, aber bisher hatten wir nichts erreichen können. Nicht mal einen winzigen Hinweis hatten wir gefunden! Wir hatten uns auch noch mal auf der Lichtung umgesehen, aber nichts mehr gefunden. So langsam waren wir wirklich ratlos. Ich hatte die letzten zwei Nächte bei Luca verbracht, damit wir abwechselnd Wache am Fenster schieben konnten, aber bisher hatte auch das nichts gebracht. Als ich in dieser Nacht am Fenster saß und trübselig auf die Straße starrte, zog sich mein Magen zusammen. Seitdem Papá hinter den Wänden saß, hatte es keine Einbrüche mehr gegeben und alle Bewohner schienen glücklich und zufrieden zu sein. Das musste ein bescheuerter Zufall sein, anders konnte ich es mir nicht erklären! In den ersten Tagen hatten sie ihre Fenster und Türen nachts vernagelt, aber nachdem die Nachricht die Runde gemacht hatte, dass Papá weg war, waren auch die Barrikaden verschwunden und alle gingen glücklich ihrer Wege. Ich könnte jedem einzelnen von ihm ins Gesicht schlagen, wenn ich hörte, wie glücklich sie über Papás Verschwinden waren.
Gewalt ist keine Lösung, amor! Und das weißt du auch genau! Das hilft meinem hijo auch nicht, wenn du das ganze Dorf verschlägst! Du bist klug, du findest eine andere Lösung! Du musst nur geduldig sein und deinem Vater beistehen!
Das versuchte ich ja schon seit Tagen! Meine Geduld war so langsam wirklich am Ende! Ich wusste wirklich nicht mehr, was Luca und ich noch tun konnten, um Papás Unschuld zu beweisen oder das ganze Diebesgut zu finden!
Möglicherweise könntest du es ja doch mal mit ein wenig Einschüchterung...
"Klappe, Esteban. Dich will ich nie mehr hören, du hast mir noch nie geholfen!", unterbrach ich die Stimme meines anderen Abuelos gereizt. Er war mir jetzt erst recht keine Hilfe, er würde nur wieder Ärger bringen. "Wahrscheinlich bist du sogar für das hier verantwortlich!"
Oh bitte, wie denn? Ich sitze im Gefängnis, Carla! Wie soll ich da ein ganzes Dorf beklauen?
"Du bist perfekt im Lügen, dir glaube ich kein Wort! Du könntest überall sein!", widersprach ich ihm genervt und starrte aus dem Fenster auf den Marktplatz, aber da tat sich nichts. Verdammter Mist! Das konnte doch nicht sein! Ich stöhnte genervt und ließ mich entmutigt in den Sessel sinken. Wieso passierte nur nichts? Da ging hinter mir die Tür auf, worauf ich mich umdrehte. Luca kam verschlafen aus dem Schlafzimmer getrottet und setzte sich zu mir.
"Ist alles gut, mi vida? Ich hab dich reden gehört", fragte er besorgt nach, ich seufzte und schüttelte den Kopf.
"Ich hab dir doch gesagt, dass ich manchmal die Stimme meiner Abuelos höre. Ich musste mich mal wieder mit einem von ihnen streiten", antwortete ich ihm und lehnte mich erschöpft an seine Schulter. "Das alles kann nur einfach nicht wahr sein! Seitdem Papá sich versteckt, gab es keine Einbrüche mehr und im Dorf ist auch keiner nachts unterwegs! Ich verliere langsam wirklich die Hoffnung, jemals jemanden zu finden!" Luca seufzte und drückte mich an sich, während er mir einen Kuss auf die Stirn gab.
"Wir finden schon noch raus, wer das war, versprochen", beruhigte er mich. "Na komm, du hast heute Nacht genug getan. Leg dich ins Bett und schlaf ein bisschen, ich übernehme hier." Ich nickte und lächelte ihn an.
"Danke, Luca. Was würde ich nur ohne dich machen?", erwiderte ich, er lächelte mich an und gab mir einen Kuss.
"Das will ich mir gar nicht vorstellen, mi vida. Na los, ruh dich ein bisschen aus, ich rufe dich schon, wenn ich etwas sehe", meinte er, ich nickte und stand auf, um in sein Zimmer zu gehen. Vielleicht würde mir ein bisschen Schlaf tatsächlich guttun.

Am nächsten Morgen wurde ich von einem energischen Klopfen an der Tür geweckt. Müde öffnete ich die Augen und ging auf den Flur. Luca hatte die Tür bereits geöffnet und ließ gerade Mamá rein, die sehr aufgebracht aussah.
"Mamá? Was ist los?", fragte ich besorgt nach.
"Die Kerze ist weg, Carlita!", antwortete sie aufgebracht. "Gestern Abend stand sie noch in Abuelas Fenster und heute Morgen war sie weg! Und das ganze Haus sieht aus, als hätte es mit jemandem gekämpft!" Ich sah Luca panisch an. Die Kerze war weg? Das Herzstück unserer Gemeinde, unserer Familie und der Magie? Aber wer würde schon eine Kerze klauen?
"Wir finden sie, Amalia. Komm, Carla", meinte Luca und warf sich seinen Poncho über.
"Carla, tu mir bitte einen Gefallen und nimm heute Nachmittag deine Schwestern zu dir! Sie leiden sehr unter dem Verschwinden deines Vaters und es geht ihm immer schlechter! Er hat mitbekommen, dass die Kerze weg ist und auch, dass Alma ihn verdächtigt. Ich weiß nicht, was in ihrem Kopf vor sich geht, aber sie ist sich sicher, dass er die Kerze aus Rache genommen hat", bat Mamá, ich schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein!
"Klar, wir nehmen die Kleinen. Sag Abuela von mir, dass ich sie hasse und sie mich maßlos enttäuscht. Sie zerstört ihre eigene Familie und das werde ich ihr nie verzeihen", erwiderte ich, bevor ich Luca aus der Wohnung zog.
"Warst du nicht gerade etwas hart?", fragte er nach, während wir schnellen Schrittes den Weg zum Wald einschlugen.
"Findest du? Ich finde, ich war fast noch etwas zu lasch", erwiderte ich sauer und kämpfte mich durch das Dickicht. Er schüttelte nur wortlos den Kopf und folgte mir zur Lichtung, die aber auch dieses Mal leer war.
"Und was willst du hier finden?", fragte Luca nach und drehte sich im Kreis. "Hier haben wir schon hundert Mal nachgesehen und nichts gefunden!"
"Ja, aber ich hab so im Gefühl, dass diese Lichtung ein wichtiger Anhaltspunkt ist", antwortete ich ihm und versuchte mich auf eine Gedankenstimme zu konzentrieren, aber außer Lucas konnte ich keine hören. Mist! Wenigstens war meine Gabe noch da, das hieß, dass die Kerze unbeschädigt und am Brennen war. Das war schon einmal sehr gut. Da hörte ich Hufgetrampel und sah mich um. Hinter einem der Bäume galoppierte ein dunkles Pferd vorbei, auf seinem Rücken saß eine schwarze Gestalt. Carlos hatte also doch nicht gelogen! Diese Gestalten gab es wirklich! Vielleicht waren sie für die Diebstähle verantwortlich! Ohne darüber nachzudenken, rannte ich dem Pferd nach, aber ich war natürlich viel zu langsam, um es einzuholen. Atemlos blieb ich nach einigen Metern stehen und sah auf den Boden. Die Hufspuren waren noch zu erkennen. Sehr gut. Dann konnten wir dem Tier folgen. Luca kam hinter mir zum Stehen. "Komm, wir haben einen Job zu erledigen! Wir finden diese Typen!" Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte ich wieder los, Luca folgte mir nur schweigend.

Ich brauche dich, Bruno 5 - Verzweifelte Hoffnung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt