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- Imke -

Ich bin gerade dabei, den letzten Teller aus der Spülmaschine herauszunehmen und abzutrocknen, als das schrille Klingeln der Tür mich erst erschrocken zusammenzucken und dann den Kopf über mich selbst schütteln lässt.
Das wird sicher Tessa sein.
Zumindest würde mir sonst niemand einfallen, der an einem Freitagnachmittag bei uns klingeln würde...
Und laut Evelyn wollte sie ja heute noch vorbeikommen, um mit mir ein paar grundlegende Dinge zu besprechen, bevor sie morgen Abend und an den nächsten beiden Samstagabenden auf Mathis und Mathilda aufpassen wird.
Als ich den beiden davon erzählt habe, habe ich dabei bewusst ausgelassen, weswegen Tessa überhaupt auf sie aufpassen muss, aber das hat Mathis und Mathilda im Grunde genommen auch kaum interessiert.
Viel lieber wollten sie mit mir verhandeln, ob sie denn wirklich noch einen Babysitter brauchen würden, aber in diesem Punkt habe ich nicht mit mir reden lassen.
Mit gerade mal sieben Jahren kann man ja wohl kaum von „zu alt für einen Babysitter“ sprechen...
Sowohl kopfschüttelnd als auch lächelnd räume ich den mittlerweile abgetrockneten Teller in den Hängeschrank und schließe dessen Tür, bevor ich das durchfeuchtete Küchentuch auf die Anrichte werfe und mit eiligen Schritten aus der Küche raus und auf den Flur trete.
Hoffentlich werden Mathis und Mathilda sich mit Tessa verstehen, sonst muss ich in den nächsten Wochen auf beiden Seiten Überzeugungsarbeit leisten.
Ich meine, wenn ich daran denke, wie viele Babysitter Mathis und Mathilda in den letzten Jahren mit ihrer scheinbar unerschöpflichen Energie vergrault haben...
Ich seufze leise, während ich weiter über den Flur hinweg in Richtung Tür gehe.
Wenigstens sind die beiden noch oben in ihrem Zimmer.
So habe ich immerhin die Chance, erst einmal alleine mit Tessa zu reden und sie etwas auf die beiden vorzubereiten.
Mit einem weiteren Seufzer bleibe ich vor unserer Haustür stehen und straffe meine Schultern, bevor ich nach der Türklinke greife und diese zögernd herunterdrücke, nur um
kurz darauf zu spüren, wie mir mein Gesichtsausdruck vollständig entgleitet.
Wow...
Die junge Frau vor mir schenkt mir ein einnehmendes Lächeln, wobei sie jedoch gleichzeitig etwas umständlich den aufgeknöpften Blazer über ihrer Bluse zurechtrückt und dabei von einem High Heel gezierten Fuß auf den anderen tritt.
Ihr hübsches Gesicht wird von haselnussbraunen Haaren umrahmt, welche ihr wellengleich über die Schulter fallen, und ihre kleine Stupsnase ist mit ein paar Sommersprossen gesprenkelt.
Dabei ist der aufmerksame Blick aus ihren blauen Augen fast genauso einnehmend wie ihr Lächeln und lässt mich zu meiner Überraschung einmal schwer schlucken.
Das...das ist also Tessa.
Ich spüre, wie sich mein Griff um die Türklinke etwas mehr festigt und ich mehrfach blinzeln muss, während ich sie weiterhin fasziniert ansehe.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dies das Mädchen aus Evelyns Erzählungen sein soll, welches früher unzählige Streiche gespielt und heimlich beim Nachbarn Blumen gepflückt hat.
Sie wirkt so...wow...einfach nur wow.
Ich...
Meine Güte, Imke!
Jetzt starr sie doch nicht so an, als wäre sie ein Geist!
Reiß dich zusammen!
Doch stattdessen schaue ich Tessa nur weiter an, bis diese mir nach einigem Hin- und Hertreten auf der Stelle schließlich etwas zögernd ihre Hand entgegenstreckt.
„Ähm...guten Tag, Frau Holm. Ich bin Tessa Lambrecht und...na ja, meine Patentante Evelyn meinte, dass Sie einen Babysitter gebrauchen könnten und deshalb bin ich hier...ähm...ja...“

- Tessa -

Oh Mann, was war das denn bitte für eine komische Vorstellung?
Volle Punktzahl auf der Peinlichkeitsskala.
Zehn von zehn.
Treffer versenkt.
Spiel, Satz und Sieg.
Am besten gehe ich gleich wieder, bevor ich mich hier noch mehr blamiere...
Doch stattdessen bleibe ich weiter ungerührt auf der überdachten Veranda stehen und strecke der Frau gegenüber von mir immer noch meine Hand wie ein komplett beschränkter Vollidiot entgegen.
Das nenne ich doch mal einen tollen ersten Eindruck als zukünftige Babysitterin.
Kein Vergleich zu dem ersten Eindruck, den ich allein schon von dem Haus hatte...
Bereits auf dem Weg zum Hauseingang habe ich nicht schlecht gestaunt, als ich dem schnörkeligen Pflasterweg durch den kleinen blumenbesetzten Vorgarten gefolgt bin und dabei an dem weißen Steinhaus hochgesehen habe, an dessen linker Wandseite sich eine Kletterrose bis zur oberen Etage des
Hauses emporrankt.
Hat ein bisschen was von dem Schloss von Dornröschen...
Und dieser Eindruck sollte nur noch bestätigt werden, als mir kurz nach meinem Klingeln an der Tür und den
darauffolgenden näher kommenden Schritten scheinbar Dornröschen höchstpersönlich die Tür geöffnet hat.
Dass Imke Holm eine attraktive Frau ist, lässt sich wirklich nicht bestreiten, auch wenn sie mit der schwarzumrandeten Brille und der aufrechten Haltung vielleicht auf den einen oder anderen im ersten Moment etwas einschüchternd wirken könnte.
Allerdings wird diese scheinbare Strenge nicht nur durch den etwas überraschten Ausdruck auf ihrem Gesicht aufgehoben, sondern auch durch die leichten Grübchen, die sich auf ihren Wangen abzeichnen.
Ihre schlichte und locker sitzende Kleidung und der etwas unordentliche Dutt, zu dem sie ihr schwarzes Haar zusammengebunden hat, unterstreichen diesen Verlust der Strenge zusätzlich und lassen mich unter dem langen Blick ihrer grünen Augen meine Hand weiter zum Gruß ausstrecken, bis sie mir mit einem leichten Räuspern auch endlich ihre
Hand entgegenstreckt.
„Ich...ähm...entschuldigung“, murmelt sie und ich spüre, wie eine überraschend angenehme Wärme meinen Körper durchströmt, als sich Imke Holms Hand um meine schließt, „ich war nur für einen Moment etwas...irritiert.“
Wow...was für eine Stimme.
Samtweich und gleichzeitig doch irgendwie fest und entschlossen...
Oh Mann, was denke ich denn da?!
Ich sollte mich auf ihre Worte konzentrieren und nicht auf ihre Stimme, bevor ich noch mehr Schwachsinn von mir gebe, so wie gerade eben!
„D-Das...äh...d-das macht doch nichts“, erwidere ich stammelnd und streiche mir mit einem etwas verunsicherten
Lächeln eine wirre Haarsträhne hinters Ohr, nachdem Imke Holm meine Hand wieder losgelassen hat, „d-das...d-das ist ja auch kein Wunder, dass Sie irritiert sind...also, ich meine wegen meiner holprigen Vorstellung und nicht, weil Sie generell irgendwie verwirrt sind oder so...das wollte ich
damit auf keinen Fall sagen...ich meine...also...äh...“
Das hat ja super geklappt mit dem Konzentrieren...
Beschämt über mein erneutes Gestammel weiche ich Imke Holms  Blick aus und kaue für einen Moment auf meiner Unterlippe, als der dumpfe Klang eines Lachens mich wieder zu ihr zurückschauen lässt und ich sehe, wie sie kichernd in meine Richtung schaut und dabei ihren Mund etwas mit einer Hand
bedeckt.
Wow...ihr Lachen ist mindestens genauso schön wie ihre Stimme...wirklich schön.
Für eine Weile schaue ich die schwarzhaarige Schönheit vor mir einfach nur an, bis sie sich schließlich wieder etwas beruhigt hat und mit einem leichten Räuspern ihre Schultern strafft.
„Vielleicht sollten wir noch einmal von vorne anfangen, hm?“, fragt sie und streckt mir mit einem sowohl amüsierten als auch selbstbewussten Lächeln ihre Hand erneut entgegen,
„Imke Holm.“
Erleichtert und dankbar zugleich lache ich auf und greife nach der Hand, die erneut ein so wunderbar warmes Gefühl in mir auslöst.
„Tessa Lambrecht.“

Liebe Zwischen Den Zeilen (Imke & Tessa) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt