# 21

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- Imke -

Gähnend lehne ich mich in den Rahmen der halbgeöffneten Balkontür und beobachte, wie die Sonne sich immer weiter hinter dem mit Häusern bestückten Horizont hervorkämpft.
Noch ein bisschen höher und unser Garten ist bald vollkommen in dieses angenehm goldene Morgenlicht getaucht, so wie der Rest von der vor mir liegenden Nachbarschaft.
Lächelnd ziehe ich mit einer Hand den Bademantel etwas fester um meinen Körper, während ich mit der anderen Hand die von meinen Fingern umschlossene Kaffeetasse an meine Lippen führe, um einen großen Schluck davon zu nehmen.
Ich liebe diese frühen Morgenstunden.
Die Zeit, wenn man dabei zusehen kann, wie in den umgebenen Häusern nach und nach die Lichter in den Fenstern angehen, so als würden sie zum Leben erwachen.
Auch wenn dieses Phänomen an einem Samstagmorgen wie heute verständlicherweise etwas auf sich warten lässt...
Und trotzdem...allein der Gedanke daran beruhigt mich ungemein und ist auf jeden Fall eine Entschädigung für diese vergangene Nacht...oder viel mehr für diese verkorksten Träume...
Träume von Tessa...und von mir...
Ich schlucke schwer und senken meinen Blick hinab zur Kaffeetasse, um dessen Henkel sich meine Finger mehr und mehr verkrampfen, während vereinzelte Traumfetzen vor meinem inneren Augen hin und her tanzen.
Wie Tessa mit einem Mal innehält...
Wie sich ein Schatten über ihre blauen Augen legt...
Wie der Blick dieser wunderschönen Augen langsam zu meinen Lippen wandert...
Wie sie sich mit sanftem Lächeln zu mir vorlehnt...
Und wie sie...mich...
Verdammt!
Wütend über mich selbst kneife ich die Augen zusammen und schüttle heftig den Kopf.
Das liegt alles nur an diesem dämlichen Manuskript und an dieser noch viel dämlicheren Stelle, die ich gestern Nacht übersetzt habe.
Die Stelle, an welcher Rita Emma so intensiv angeschaut und Emma gerätselt hat, was es mit diesem Blick auf sich hat.
Diesem langen, fast schon lasziv wirkenden Blick...
Mühsam verdränge ich weitere aufsteigende Bilder aus meinen Träumen und nehme stattdessen einen erneuten und recht großzügigen Schluck von meinem Kaffee.
Ich verstehe das einfach nicht.
In all den Jahren, in denen ich schon als Übersetzerin arbeite, habe ich kein einziges Mal Bestandteile eines Manuskriptes mit in meine Träume genommen...und dann jetzt?
Und auch noch mit Tessa?
Ausgerechnet mit Tessa?
Und obendrein auch noch ausgerechnet heute, wo Tessa mir doch später beim Fertigmachen für mein zweites Date helfen
möchte...

- Tessa -

„Tessie?“
Murrend kneife ich die Augen fest zusammen und vergrabe mein Gesicht in dem Kissen unter mir, als ich spüre, wie ein paar Finger vorsichtig durch mein Haar streichen.
„Tessie? Können wir reden?“
„Muss das unbedingt jetzt sein, Henrik?“, frage ich grummelnd, während ich meinen Kopf immer noch ins Kissen drücke, „es ist Samstag und ich bin noch total müde...“
„Komm schon, Tessie...“
Der bittende Ton in Henriks Stimme lässt mich tief durchatmen, bevor ich langsam meinen Kopf hebe und mehrmals blinzeln muss, bis ich den zerknirschten Ausdruck auf Henriks Gesicht scharf erkennen kann, der zu meiner Überraschung bereits gewaschen und angezogen neben dem Sofa hockt, auf dem ich vergangene Nacht geschlafen habe.
„Danke“, sagt Henrik und schenkt mir ein schiefes Lächeln, ehe er mich erneut schuldbewusst ansieht, „ich...ich wollte mich wegen gestern entschuldigen...“
„Aha“, erwidere ich tonlos und setze mich auf, bevor ich mit beiden Händen durch meine vom Schlaf zerzausten Haare fahre, „weil du unseren gemeinsamen Abend vergessen hast oder wegen deinem Verhalten, als du nachts zurückgekommen bist?“
„Na ja...beides irgendwie“, murmelt Henrik, wobei sein Gesicht für einen Moment noch etwas schuldbewusster wird, „und weil ich es wieder gut machen möchte, habe ich gedacht, wir könnten doch gleich ins Café Sweetheart gehen. Da frühstückst du doch so gerne und...“
„Ist das dein Ernst?“ Ich kann die in meiner Stimme mitschwingende Schärfe nicht verbergen, während ich Henrik aus schmalen Augen anfunkle. „Das ist schon das gefühlt hundertste Mal gewesen, dass du mich einfach so versetzt hast! Und du glaubst ernsthaft, dass du das mit irgendeinem Frühstück wieder gut machen kannst? Erst recht nach der Aktion von letzter Nacht?!“
„Okay, okay“, beschwichtigend hebt Henrik seine Hände, „wie wäre es, wenn wir nach dem Frühstück noch in die Stadt gehen? Ich hab da in einem Laden ein Kleid gesehen, in dem du mega heiß aussehen würdest.“
Ich kann nicht anders, als Henrik einfach nur anzustarren, während er mir süffisant zuzwinkert.
„Du kapierst echt gar nichts, oder?“
„Wieso? Ich hab mich doch entschuldigt!“, entgegnet Henrik
in einem fast schon trotzigen Tonfall, der mich spöttisch auflachen lässt, „ich meine, du weißt doch, wie ich drauf bin, wenn ich was getrunken habe. Ich kann doch auch nichts dafür...“
„Doch, zum Beispiel weniger trinken, wenn du weißt, dass du so reagierst.“
„Boah, Tessie“, genervt verdreht Henrik die Augen, „nicht jeder ist so verklemmt wie du.“
„Verklemmt?!“ Das abrupte Schrillen meiner Stimme lässt Henrik zusammenzucken. „Nur weil ich mich nicht von dir im betrunkenen Zustand begrapschen und anschließend mit
irgendwelchen Kleidern oder Frühstückseinladungen ruhig stellen lasse, bin ich also verklemmt, ja?!“
„Mann, jetzt entspann dich doch mal, Tessie. Hast du deine Tage oder warum rastest du so aus? Früher hat dich das doch auch nicht gestört.“
„Früher bist du auch nicht ständig sturzbesoffen nach Hause gekommen und hast mich gegen meinen Willen angefasst!“
Mit einem erneuten Augenrollen richtet sich Henrik auf und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen. „Okay, weißt du was? Vergiss es einfach. Wenn du so drauf bist, kann man eh nicht mit dir reden.“
Wie bitte?!
Entgeistert schaue ich Henrik an, der sich kopfschüttelnd von mir abwendet und mit schlurfenden Schritten aus dem Wohnzimmer verschwindet, ehe kurz darauf unsere Wohnungstür mit einem dumpfen Scheppern ins Schloss fällt...

Liebe Zwischen Den Zeilen (Imke & Tessa) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt