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- Imke -

„Du hast es nämlich verdient, glücklich zu sein und von jemandem aus vollem Herzen geliebt zu werden.“
Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich rücklings auf mein Bett fallen und bleibe in einer seesternartigen Position darauf liegen.
Ich weiß nicht, zum wievielten Mal mir Tessas Worte in dieser Nacht durch den Kopf stolpern, aber ich kann sie einfach nicht vergessen.
Genauso wenig wie die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme und die Entschlossenheit in ihrem Blick, als sie diese Worte ausgesprochen hat.
Worte, die zuvor noch nie jemand zu mir gesagt hat.
Nicht einmal Thomas, auch wenn ich weiß, dass er immer nur das Beste für mich wollte und auch immer noch will.
Sonst würde er mich wohl kaum bei jedem unserer Treffen indirekt und unterschwellig fragen, ob ich eventuell jemanden kennengelernt hätte.
Wer weiß, vielleicht hat er insgeheim ja doch noch ein schlechtes Gewissen, weil er mich damals wegen Pauline verlassen hat, auch wenn er eigentlich wissen müsste, dass er das nicht zu haben braucht.
Ich habe ihn ja damals sogar zu der Trennung ermutigt und ihm mehrmals versichert, dass es für mich in Ordnung wäre, was es ja auch war, zumal Pauline eine unfassbar liebe Frau ist und sowohl Mathis als auch Mathilda gleich in ihr Herz geschlossen hat.
Wie könnte ich dem Glück von Thomas da im Weg stehen?
Und abgesehen davon wussten wir beide ja auch von Anfang an, dass das zwischen uns keine ernsthafte Liebe ist, sondern mehr das Gefühl einer bis heute andauernden tiefen Freundschaft und Verbundenheit.
Grübelnd kaue ich auf meiner Unterlippe und setze mich langsam wieder auf meinem Bett auf, während Tessas Worte ein weiteres Mal wie Wolken durch meine Gedanken ziehen.
Im Grunde genommen ist es auch mehr als fraglich, wie ernst ich diese Worte wohl genommen hätte, wenn ich sie früher von Thomas oder jemand anderem gehört hätte.
Wahrscheinlich nicht allzu ernst, wenn ich ehrlich bin...
Zum einen, weil sie einen etwas kitschigen Charakter haben und wie etwas klingen, was auch ohne Zweifel in einem der Liebesromane stehen könnte, die ich seit Jahren übersetze.
Und zum anderen, weil ich in all den Jahren nie das Bedürfnis verspürt habe, von jemandem auf diese Weise
geliebt zu werden.
Meine Kinder und meine Arbeit haben mir stets genügt.
Aber seit ich Tessa kenne, hat sich meine Einstellung dahingehend irgendwie verändert...
Und ausgerechnet solche Worte dann von ihr zu hören...aus ihrem Mund zu hören...war etwas anderes...etwas
Besonderes...
Beschäftigen mich diese Worte vielleicht gerade deshalb so sehr?
Weil sie von Tessa stammen?
Und wie kann es eigentlich sein, dass ich nach einem so wunderschönen Abend mit Florian trotzdem nur an die kurze Unterhaltung denken kann, die ich mit dieser jungen Frau geführt habe?
Und an unsere Umarmung?
An dieses wunderschöne Gefühl ihrer warmen Arme um meinen Kör-...
Der fester werdende Biss auf meiner Unterlippe holt mich aus meinen Gedanken zurück und ich kneife die Augen fest zusammen, als ich mich wieder zurück auf mein Bett fallen
lasse und mein Gesicht mit beiden Händen bedecke.
Ich sollte schlafen!
Dringend!
Und morgen früh werde ich Evelyn anrufen und ihr von Florian und unserem gemeinsamen Abend erzählen.
Vielleicht kann sie mir ja sogar dabei helfen, ein zweites Treffen mit ihm zu organisieren.
Ja, genau...das mache ich...

- Tessa -

„Verdammt!“, fluche ich leise und bücke mich nach meinem Schlüssel, der mir beim mittlerweile dritten Versuch, diesen in das Schloss unserer Wohnungstür zu zwängen, aus der Hand gerutscht und auf die Fußmatte gefallen ist.
Das passt doch perfekt zu dem Abschluss dieses verkorksten Abends.
Erst der Streit mit Henrik.
Dann die unendliche Warterei auf Imke.
Und jetzt bin ich sogar zu blöd, um so eine dämliche Tür aufzuschließen.
Toll.
Perfekt.
Besser geht’s doch gar nicht.
Murrend richte ich mich wieder auf und schaue auf den Schlüsselbund in meiner Hand, ehe ich mit einem schweren Seufzer den Kopf hängen lasse.
Jetzt habe ich absichtlich schon den längeren Fußmarsch nach Hause genommen, in der Hoffnung, dass mich die frische Nachtluft ein wenig von meinen verwirrenden Gedanken ablenkt und bin trotzdem noch vollkommen durcheinander.
Ich meine, ich habe die Worte, die ich gesagt habe, auch so gemeint...
Imke hat es verdient glücklich zu sein.
Und wenn sie glaubt, dass dieser Florian sie glücklich machen kann...dass er sie aus vollem Herzen lieben kann...dann...dann sollte sie sich auch weiterhin mit ihm treffen und diese Chance nicht ungeachtet verstreichen lassen.
Das habe ich ihr gesagt.
Und ich habe es auch so gemeint.
Aber warum habe ich dann so ein verdammtes Problem damit?!
Gönne ich ihr etwa ihr Glück mit Florian unterbewusst doch nicht, weil es gerade Schwierigkeiten zwischen Henrik und mir gibt?
Bin ich wirklich so missgünstig?!
Oder warum sonst ziehen sich mein Hals und mein Magen bei dem Gedanken an die Beiden derartig zusammen?
Warum sonst ist mein Herz mit einem Mal so schwer geworden, als Imke mir von ihrem gelungenen Abend erzählt hat?
Warum sonst möchte ich Imke einfach nur umarmen, festhalten und nie wieder loslassen, so wie vorhin, als sie versucht hat, mich wegen Henrik zu trösten?
Moment, w-was?!
Verwirrt über diesen in der Aufzählung recht unpassenden
Gedanken hebe ich meinen Kopf mehrfach blinzelnd wieder an und schaue geradewegs auf das Metallschild an der Wohnungstür, auf dem „Sternberg & Lambrecht“ in
geschwungenen Buchstaben eingraviert ist.
Erinnerungen, wie stolz Henrik mir dieses Schild und die beiden Wohnungsschlüssel an einem Sonntagmorgen beim Frühstück präsentiert und mir verkündet hat, dass dies der Beginn unserer gemeinsamen und glücklichen Zukunft wäre, flackern vor meinen Augen auf und lassen mich verächtlich den Kopf schütteln.
So viel zum Thema „glückliche Zukunft“.
Wahrscheinlich betrinkt Henrik sich immer noch auf irgendeiner Party.
Aber mir soll’s recht sein, so habe ich die Wohnung wenigstens für mich.
Zumindest bis morgen früh...
Immer noch kopfschüttelnd suche ich den Wohnungsschlüssel aus meinem Schlüsselbund wieder heraus und schaffe es endlich, diese dämliche Tür aufzuschließen, die sich zu meiner Überraschung bereits nach einer Umdrehung öffnet.
Komisch...
Ich hätte schwören können, dass ich die Tür mit zwei Umdrehungen abgeschlossen habe, so wie immer...
Oder ist Henrik etwa doch schon zu Hause?
Mit gerunzelter Stirn öffne ich die Tür und blicke in den dunklen Flur unserer Wohnung, wobei mir ein dumpfes Geräusch entgegendringt, was ich nicht ganz zuordnen kann.
Wirklich komisch...
„Henrik?“, frage ich in die Dunkelheit hinein und knipse die schmale Stehlampe neben der Garderobe an, um den Flur so zumindest ein bisschen besser erkennen zu können, „bist du da?“
Doch statt einer Antwort höre ich, wie das dumpfe Geräusch etwas lauter wird und horche auf, als ich ein angestrengtes Schnaufen von Henrik erkenne, welches offenbar aus unserem Schlafzimmer kommt, dessen Tür leicht angelehnt ist.
Sieht so aus, als hätte er doch noch den Weg von der Party nach Hause gefunden.
Auch wenn er nicht unbedingt in einem Zustand zu sein scheint, in welchem ich mit ihm über unseren Streit reden könnte.
Dann muss ich wohl bis morgen früh warten.
Oder bis wann auch immer er ausgenüchtert ist...
Ich seufze ergeben und drehe mich um, um die Wohnungstür hinter mir zu schließen, als mich ein langgezogenes Stöhnen erstarren lässt.
Ein langgezogenes...hohes...Stöhnen, welches unmöglich von Henrik kommen kann...
Wie in Trance drehe ich mich wieder um und gehe nach anfänglichem Zögern über den Flur hinweg zu unserem Schlafzimmer, dessen angelehnte Tür ich mit zitternden Fingern noch etwas weiter aufdrücke und ein weiteres Mal erstarre...

Liebe Zwischen Den Zeilen (Imke & Tessa) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt