# 36

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- Imke -

„Ja, doch! Ich komme ja schon!“, knurre ich verärgert und ziehe meinen Morgenmantel noch ein Stück fester um meinen Körper zusammen, während ich mit vor Müdigkeit brennenden Augen über den spärlich beleuchteten Flur zu unserer Haustür
tapse, an der zum mittlerweile vierten Mal sturmgeklingelt wird.
Es ist wirklich ein Wunder, dass Mathis und Mathilda bei dem Krach noch nicht wachgeworden sind...
Aber wer zum Kuckuck macht mitten in der Nacht so einen Lärm?!
Ich schwöre, wenn das Frau Reiner ist, werde ich ihr endgültig ihren knöchrigen Hals umdrehen!
Und wenn nicht, erwarte ich mindestens einen Einbruch irgendwo in der Nachbarschaft!
Oder einen Großbrand!
Oder landende Ufos!
Oder irgendeine andere angemessene Rechtfertigung dafür, warum jemand meint, mir um halb zwei in der Nacht das Trommelfell aus dem Ohr sprengen zu müssen!
Mit einem Schnauben bleibe ich vor der Haustür stehen und lehne mich vor, um durch den Türspion nach draußen zu sehen.
Nicht, dass am Ende noch ein wildgewordener Axtmörder durch
die Gegend läuft...
Doch als ich nach mehrfachem Blinzeln die Gestalt hinter der Tür auf der beleuchteten Veranda erkenne, weiten sich meine Augen schlagartig und ich trete zurück, um die Haustür mit einem kräftigen Zug aufzureißen.
„Tessa! Was...um Himmels Willen...was ist denn passiert?!“, frage ich und starre die vor sich hin schluchzende Frau entgeistert an, die meinen Blick jedoch nur aus ihren verweinten blauen Augen erwidert und ihre Arme fest um ihren zitternden Körper geschlungen hat, so als würde sie versuchen, ihn am Auseinanderfallen zu hindern.
Verdammt, was ist denn nur passiert?!
Sie steht ja total neben sich!
Gab es etwa doch Probleme auf ihrem Heimweg?!
Hätte ich sie vielleicht doch nach Hause bringen sollen?!
Verdammt, wieso habe ich das nicht getan?!
Wieso habe ich sie gehen lassen?!
Wieso habe ich nicht darauf bestanden sie zu fahren?!
Ich bin so ein Idiot!
So ein verdammter Idiot!
Verdammt, verdammt, verdammt!
„Tessa, ich...“, setze ich an, werde aber von Tessas herzzerreißendem Schluchzen unterbrochen, während sie ihren Kopf kraftlos nach vorne sinken lässt und noch mehr Tränen
über ihre nassen Wangen kullern.
Okay, das reicht jetzt...
„Tessa, bitte!“ Entschlossen umfasse ich ihre Schulter mit einer Hand, während zwei Finger meiner anderen Hand ihr Kinn sanft und zugleich bestimmt nach oben drücken, sodass mich ihre vom Weinen geröteten Augen ansehen müssen. „Bitte rede mit mir, Tessa! Bitte! Was ist...“
Doch bevor ich weitersprechen kann, hat Tessa die Arme von ihrem Körper gelöst und stattdessen um meine Schultern geschlungen, um sich fest an mich zu drücken.
So fest, als würde sie Halt an mir suchen und wodurch ich gar nicht anders kann, als ihre Umarmung zu erwidern.
Unter anderen Umständen hätte ich diese seit heute so vertraute Berührung sicherlich genossen, aber Tessas Tränen an meiner Schulter und an meinem Hals zerreißen mich
innerlich.
Ich muss doch etwas machen können...
Irgendetwas, damit sie sich beruhigt...
Mit schwerem Schlucken halte ich für einen Moment inne, bevor ich zögernd eine Hand hebe und beginne, vorsichtig über Tessas Haar zu streichen.
Immer wieder, bis Tessas Schluchzer leiser werden und sie sich mehr und mehr in meine Berührung zu lehnen scheint, nur um sich kurz darauf ein Stück zurückzulehnen und mich
blinzelnd anzuschauen.
„H-Henrik...H-Henrik hat mich b-betrogen...“

- Tessa -

„Hier.“
Durch den Tränenschleier meiner Augen erkenne ich, wie Imke mir eine dampfende Tasse hinhält, vermutlich mit der stummen Erwartung, dass ich diese annehme und einen Schluck daraus trinke, wonach mir gerade jedoch wirklich nicht ist.
Ganz im Gegenteil...
Seit ich Henrik mit dieser Blondine in unserem Bett erwischt habe, ist mein Hals wie zugeschnürt und bringt nicht mehr als hilflose und erbärmliche Schluchzer zustande.
Die wenigen Worte, die ich vorhin an der Tür gegenüber Imke rausgebracht habe, grenzen da schon an ein Wunder...
„Tessa.“ Auch wenn ich Imke nicht ansehe, spüre ich, wie sie mich besorgt ansieht. „Du musst etwas trinken. Du bist immer noch am Zittern und vollkommen durchgefroren von der kühlen Nachtluft.“
Na und?
Als ob das noch wichtig wäre...
So leer wie ich mich fühle, spüre ich die Kälte nicht einmal richtig...
Auf mein gleichgültiges Schulterzucken reagiert Imke mit einem tiefen Seufzen.
„Na gut“, murmelt sie und ich erkenne an dem dumpfen Klirren, dass sie die Tasse auf den Wohnzimmertisch vor mir gestellt hat, „dann müssen wir dich eben anders aufwärmen.“
Ich höre, wie ihre Schritte sich langsam entfernen und kurz darauf wieder zu mir zurückkehren.
„Vorsicht, nicht erschrecken“, warnt Imkes sanfte Stimme mich, als sie sich neben mich aufs Sofa setzt und eine
weiche Stoffdecke über meine Schultern legt, welche sie anschließend so zurechtzupft, dass mein Körper am Ende vollständig in die Decke eingehüllt ist.
Wie eine Art schützendes Kokon, welches mich vor allen üblen Dingen des Lebens beschützen soll.
Obwohl mir dafür ja noch ein besseres Kokon einfällt...
„So, perfekt.“ Zufrieden mit ihrer Arbeit rubbelt Imke mir zum Abschluss nochmal mit beiden Händen über die Oberarme und schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln. „Jetzt wird dir gleich ganz schnell ganz warm werden, Tessa. Du wirst schon sehen.“
Doch anstatt etwas auf Imkes Aussage zu erwidern, schaue ich sie einfach nur an, bevor ich mich langsam zu ihr lehne und mich seitlich an ihre Schulter schmiege.
„T-Tessa...w-was“, stammelt Imke und dreht sich nun vollständig zu mir um, wodurch mein Kopf von der äußeren
Seite ihrer Schulter zu ihrem Schlüsselbein und ihrem Hals rutscht, „w-was m-machst d-du...“
„Nicht weggehen“, unterbreche ich Imke mit krächzender Stimme, während ich mich gleichzeitig noch mehr an sie kuschle, wodurch Imke rücklings in die Ecke zwischen Arm-
und Rückenlehne des Sofas sinkt, „bitte nicht weggehen...bitte nicht...“
Imkes schweres und deutlich hörbares Schlucken lässt mich abrupt innehalten und erstarren.
Verdammt...was mache ich denn hier?
Wenn ich mich ihr so aufdränge, bin ich doch kein Stück besser als Henrik in dieser einen Nacht!
Nein, das hat Imke nicht verdient.
Nicht nach allem, was sie schon für mich getan hat...
Beschämt und ebenfalls schwer schluckend richte ich mich, langsam und so gut es mir mit der Decke um meinen Körper gelingt, wieder auf, als Imke mich im nächsten Moment auch
schon wieder zu sich zurückzieht.
„Nein, keine Sorge“, flüstert sie und hält mich mit einem Arm fest umschlungen, während sie mit der Hand des anderen Armes erneut sanft durch mein Haar streicht, „ich gehe nirgendwohin. Ich bleibe hier. Bei dir.“
Erleichterung durchströmt meinen Körper wie eine wohltuende Welle des Glücks und ich spüre, wie ich immer mehr in Imkes Umarmung sinke und meine Augenlider dabei immer schwerer werden.
„Bitte...nicht...weggehen...bitte...nicht...weg-“

Liebe Zwischen Den Zeilen (Imke & Tessa) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt