# 44

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- Imke -

Schwer atmend sehe ich dem rauschenden Wasserstrahl dabei zu, wie er nach und nach das von mir fest umklammerte Glas bis zum Rand füllt, ehe ich dieses unter dem laufenden Wasserhahn wegziehe und anschließend mit gierigen Schlucken leere.
Die angenehme Kühle, die meinen pulsierenden und leicht erhitzten Körper dank des Wassers durchströmt, lässt mich aufatmen, als ich das nun leere Glas wieder von meinen Lippen absetze und leise klirrend auf die Küchenanrichte neben dem Spülbecken stelle.
Verdammt...
Was habe ich mir nur dabei gedacht, dieses Kapitel heute zu übersetzen?
Ausgerechnet heute?
Ich meine, natürlich musste ich an dem Manuskript weiterarbeiten und ich konnte auch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass diese...Szene...in genau diesem Kapitel auftauchen würde...
Aber trotzdem!
Warum ausgerechnet heute?!
Mit einem frustrierten Stöhnen drehe ich den immer noch laufenden Wasserhahn wieder zu und stütze mich mit beiden Händen auf den Rand des Spülbeckens.
Verdammt, ich muss mich zusammenreißen!
Tessa kann jeden Moment kommen und wenn sie merkt, wie durcheinander ich bin, wird sie garantiert Fragen stellen.
Fragen, die ich ihr nicht beantworten kann.
Oder zumindest nicht beantworten sollte...
Ich meine, ich kann ihr ja wohl kaum erzählen, dass die gerade übersetzte Sexszene zwischen Emma und Rita mich so dermaßen aus dem Konzept gebracht hat, dass ich kaum einen
klaren Gedanken fassen kann!
Geschweige denn von den Bildern, die wie ein Film immer wieder in meinem Kopf abgespielt sind...
Bilder, in denen Tessa an Emmas Stelle getreten ist und ich...oh, verflucht!
Ich hole tief Luft und beiße mir auf die Unterlippe, in der Hoffnung, dadurch das angenehme Ziehen in meiner südlichen Gegend ein wenig zu lindern.
Das muss aufhören!
Sofort!
Sonst drehe ich noch durch!
Oder verliere die Kontrolle!
Und zu beidem fehlt wirklich nicht mehr viel...
Das abrupte Türklingeln lässt mich wie ertappt zusammenzucken und kurz darauf ein weiteres Mal aufstöhnen.
Das passt ja mal wieder wie aufs Stichwort...
Auch wenn mein Herz kleine nervöse Hüpfer macht, straffe ich meine Schultern und verlasse mit einem recht ernsten Blick die Küche, um in Richtung Haustür zu gehen, wobei meine wackeligen Schritte jedoch mit Sicherheit meine unruhigen Herzschläge verraten...
Aber nein!
Ich muss mich zusammenreißen!
Und ich schaffe das auch!
Es sind doch nur zwei Stunden!
Zwei Stunden, bis ich mich für das Date mit Florian fertig machen muss. Und diese Zeit werde ich ja wohl hinter mich bringen können, ohne mir diese verwirrenden Gedanken gegenüber Tessa anmerken zu lassen!
Und wer weiß, wenn das Date mit Florian gut läuft, bin ich dieses elende Gedanken- und Gefühlschaos vielleicht sogar schon heute Abend endlich los...
Mit einem abschließenden und mir mutmachenden Nicken bleibe ich vor der Haustür stehen, atme noch einmal kurz durch und strecke dann meine Hand nach der Klinke aus, um nach kurzem Herunterdrücken die Tür aufzuziehen und geradewegs in Tessas wunderschönes Gesicht zu sehen.
Ihr warmes Lächeln strahlt mit ihren blauen Augen um die Wette und ich spüre, wie der gerade noch von mir gefasste Widerstand wie Eis in der Sonne dahinschmilzt.
„Hallo, Imke.“
„H-Hallo, Tessa.“
Ich bin wirklich ein hoffnungsloser Fall...

- Tessa -

„...und deshalb hat Evelyn jetzt angefangen, die ganzen Rosensträuße bei den Nachbarn im Haus zu verteilen“, beende ich meine Erzählung und lehne mich mit einem tiefen Seufzer im Sessel zurück, während Imke mich vom Sofa aus mit einem Blick ansieht, den ich nicht ganz deuten kann.
Einem Blick, als wäre sie mit ihren Gedanken vollkommen woanders.
Das ist irgendwie...interessant...
„Ähm, verstehe“, sagt Imke nach einer Weile des Schweigens und nickt knapp, ehe sie mit leicht zitternden Fingern nach ihrem Wasserglas greift und einen großen Schluck davon nimmt.
Sehr interessant...in der Tat.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast sagen sie ist nervös...
„So so, tust du das?“, frage ich und hebe amüsiert eine Augenbraue, während ich die Beine übereinander schlage, „wenn ich dich langweile, musst du es nur sagen, Imke.“
„Ach, Unsinn“, kopfschüttelnd stellt Imke ihr Glas wieder zurück auf den Wohnzimmertisch, „du langweilst mich nicht, Tessa. Im Gegenteil...“
„Im Gegenteil?“, schmunzelnd ziehe ich meine Augenbraue noch ein Stück höher, „und wie darf ich das verstehen?“
„Nun“, Imke räuspert sich und rückt die Brille auf ihrer Nase etwas zurecht, „ich...ich habe nur gedacht, dass Henrik dich wohl sehr zu lieben scheint, wenn er dir jeden Tag so viele Blumen schickt...“
„Glaub mir, wenn du dir die Nachrichten anhörst, die er mir gestern auf meiner Mailbox hinterlassen hat, würdest du das nicht denken“, entgegne ich und kann dabei den bitteren Unterton in meiner Stimme nicht verbergen.
„Wieso?“ Imke richtet sich etwas auf ihrem Platz auf und schaut mich mit einer Mischung aus Überraschung und Verwirrung an. „Was hat Henrik denn gesagt?“
„Im Grunde genommen, dass ich endlich mit ihm reden soll, dass er doch nichts für den One Night Stand kann und dass er mir vorwirft, unsere Beziehung einfach so wegzuwerfen“, sage ich und spüre, wie mein Herz bei jedem Wort schwerer wird, während ich meinen Blick langsam senke, „er...er hat mich sogar gefragt, ob ich ihn jemals wirklich geliebt habe. Kannst du dir das vorstellen? Er hat mich betrogen und unterstellt mir, ihn nie geliebt zu haben! Das ist
doch...ach verdammt!“
Ärgerlich wische ich mit meinem Handrücken über meine Augen, in denen sich Tränen der Wut und Enttäuschung gesammelt haben, während Imke mit besorgtem Blick aufsteht und zu mir hinüberkommt.
Na toll, dabei habe ich mir doch fest vorgenommen nicht zu weinen.
Nicht vor Imke...
Ich will doch nicht, dass sie mich so sieht...so erbärmlich...
„Es...es geht schon“, murmle ich und fahre mir erneut leise schniefend über die Augen, als Imke sich schräg auf die Armlehne des Sessels neben mich setzt.
„Ja, das sehe ich“, sagt sie mit sanfter Ironie in der Stimme und streicht mit einer zaghaften Bewegung über mein
Haar, was eine angenehme Gänsehaut über meinen Körper prickeln lässt.
Oh Himmel...
„N-Nein, wirklich“, stammle ich und kann nur mit Mühe ein langes Stöhnen unterdrücken, als Imkes Hand erneut durch mein Haar fährt, „e-es...es geht schon...ich komme schon irgendwie zurecht...“
„Wobei die Betonung auf „irgendwie“ liegt, oder?“, hakt Imke nach und ich erkenne an ihrem Tonfall, dass sie darauf keine Antwort von mir erwartet. „Ich kann mir gut vorstellen, dass dich diese Vorwürfe sehr verletzt haben, Tessa. Aber vielleicht hat Henrik diese Worte auch nur gesagt, weil er selber nicht weiß, wie er mit dieser Situation umgehen soll. Und vielleicht ist er auch verletzt, dass du seine Anrufe so konsequent ignorierst. Im Streit passiert es ja immer wieder, dass man Dinge sagt, die man gar nicht so meint.“
„Es ist wirklich lieb von dir, dass du Henrik in Schutz nehmen möchtest, Imke. Aber glaub mir, das ist vollkommen umsonst“, entgegne ich halb schluchzend, halb spöttisch, „Henrik kann einfach keine Verantwortung für sein Handeln
übernehmen und denkt, er könnte mit Geld und ein paar Geschenken alles wieder gerade rücken, was er verbockt hat. Oder er sagt, dass ich mehr Verständnis für ihn haben soll
und dreht es am Ende so, dass ich mich schlecht fühle oder die Schuldige bin. Das...das ist doch keine Liebe, oder?“
„Nein...das ist es nicht“, sagt Imke leise, während sie mir immer noch gedankenverloren übers Haar streicht, nur um kurz darauf ihre Hand mit einem Räuspern wegzuziehen, so als hätte sie sich an mir verbrannt.
Bestimmt denkt sie, dass mir diese fürsorgliche und fast schon vertraute Berührung nicht recht ist.
Wenn sie doch nur wüsste, wie falsch sie liegt...
„Wie auch immer“, murmle ich und wische mir ein letztes Mal mit dem Handrücken über meine Augen, „ich denke, ich sollte jetzt auch langsam gehen. Du musst dich ja sicherlich für
dein Date mit Florian fertig machen.“
„Und was ist mit dir? Was machst du heute Abend?“, fragt Imke vorsichtig, woraufhin ich nur mit den Schultern zucke.
„Mal sehen. Wahrscheinlich nichts Spektakuläres. Und Evelyn ist heute Abend eh auf einen Empfang eingeladen und wird wahrscheinlich bis in die frühen Morgenstunden wegbleiben, von daher habe ich da komplett freie Hand, wie ich meinen
Abend gestalten werde.“
„Verstehe“, sagt Imke leise und schließt für einen Moment die Augen, so als müsste sie sich sammeln, ehe sie ihre Augen wieder öffnet und von der Sessellehne aufsteht, um zum
Wohnzimmertisch zu gehen.
„Was machst du da?“, frage ich und runzle die Stirn, als Imke nach ihrem Handy auf dem Tisch greift und beginnt, darauf herumzutippen.
„Ich schreibe Florian, dass ich heute Abend nicht zu unserem Date kommen werde.“
Was?!
„A-Aber...a-aber warum denn, Imke?“, stammle ich, während mein Herz hoffnungsvolle Purzelbäume schlägt, „w-wieso willst du...“
„Weil ich dich in diesem Zustand bestimmt nicht heute Abend alleine lassen werde“, unterbricht Imke mich und wirft mir dabei einen Blick zu, der mir einen Schauer über den Rücken jagt, „ich bin mir sicher, dass Florian dafür Verständnis haben wird und wir holen unser Date dann einfach an einem anderen Tag nach. Aber jetzt bin ich erst mal für dich da...“

Liebe Zwischen Den Zeilen (Imke & Tessa) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt