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- Imke -

Wunderschön...
Obwohl Tessa schon vor einer guten halben Stunde eingeschlafen ist, kann ich nicht aufhören, sie weiter in meinen Armen zu halten und sanft mit einer Hand durch ihr weiches Haar zu streichen.
Ich kann überhaupt nichts dagegen tun.
Es ist wie ein Reflex.
Ein Instinkt.
Ein tief sitzendes Bedürfnis, welches mich daran hindert, sie loslassen zu wollen...ganz im Gegenteil.
Immer wieder gleiten meine Finger wie von selbst durch ihre gewellten braunen Strähnen, umwickeln sie und streichen sie vorsichtig aus ihrer Stirn.
So lange, bis ich mit einem Mal doch in meiner Bewegung inne halte.
Was...was mache ich hier eigentlich?
So nah bei Tessa...und dann noch diese vertraute...fast schon zu vertraute Geste...
Das...das ist viel zu persönlich...
Viel zu...intim...
Das...das geht doch nicht...
Mit einem schweren Schlucken senke ich meinen Kopf leicht zu Tessa hinab, auf deren Lippen sich ein zartes und fast schon seliges Lächeln gebildet hat.
Einfach nur wunderschön...
Und kein Vergleich zu dem traurigen Ausdruck, der vorhin noch wie ein schwerer Schatten über ihrem Gesicht gelegen hat.
Gedankenverloren betrachte ich Tessa weiter, deren Augenlider mittlerweile leicht flattern, so als wäre sie vollkommen in einem Traum versunken, was wiederum eine fast
schon hypnotische Wirkung auf mich hat.
Umso schärfer atme ich ein, als Tessa ihren Kopf noch mehr an meinen Hals schmiegt und dabei ein zufriedenes, aber unverständliches Murmeln von sich gibt.
Verdammt!
Ich weiß, dass Tessa schläft.
Ich weiß, dass sie diese Dinge nicht mit Absicht macht.
Und ich weiß, dass diese...Empfindungen...die ich da spüre, falsch sind...
Aber warum fühlt sich Tessas Nähe dann so richtig an?
Warum lässt mich ihr leichter Atem an meinem Hals so sehr erschauern, dass ich am liebsten laut aufstöhnen würde?
Warum lässt ihr Lächeln mein Herz schneller schlagen? Oder komplett aussetzen?
Und warum, verdammt nochmal, kann ich mich nicht dazu durchringen sie loszulassen?
Und damit meine ich nicht nur, dass ich meine Arme um ihren Körper löse.
Nein, ich meine damit diese ganzen ungewollten Reaktionen, die allein schon Tessas Anwesenheit in mir auslöst.
Ganz zu schweigen von unserem momentanen Körperkontakt...
Warum werde ich diese Reaktionen...diese Empfindungen...diese...Gefühle...ihr gegenüber einfach nicht los?
Warum?
Keine Frau hat zuvor solche Dinge in mir ausgelöst!
Keine Einzige!
Und jetzt liege ich hier und wünsche mir einfach nur, dass die Zeit stehen bleibt und dass diese Nacht mit Tessa in meinen Armen niemals endet...
Dabei möchte ich diese Gefühle doch gar nicht haben!
Gerade, wo ich doch heute Florian kennengelernt habe, der im Gegensatz zu den beiden vorherigen Blind-Date-Kandidaten ernsthaftes Interesse an mir zu haben scheint.
Sonst hätte er ja auch nicht nach einem weiteren Treffen gefragt.
Ich...ich will ihm eine Chance geben...eine faire Chance.
Aber wie soll ich das bitte machen, wenn Tessa es mit einem einfachen Lächeln oder Augenaufschlag schafft, mir den Verstand zu rauben?!
Zumal ich auch ehrlich gesagt stark bezweifle, dass Tessa diese...Gefühle...teilt, die ich ihr gegenüber habe.
Natürlich hat sie vorhin meine Nähe gesucht...aber lag das nicht viel mehr daran, dass sie aufgrund von Henriks Betrug bei jemandem Trost gesucht hat?
Egal bei wem?
Und ich war nunmal gerade da...
Meine Hand, dessen Finger vorhin noch federleicht durch Tessas Haar gestrichen sind, liegen nun schwer und ermattet an der Seite ihres Kopfes, während ich mit starrem Blick ins Leere schaue.
Ja...so wird es vermutlich sein...
Und das bringt mich auch wieder zurück zu meiner ursprünglichen Frage...
Was mache ich hier eigentlich?

- Tessa -

Irgendetwas...fehlt.
Eine gewisse Nähe...
Ein gewisser Duft...
Ein gewisses Gefühl...
Etwas, was noch da gewesen ist, als ich eingeschlafen bin...wann auch immer das gewesen sein soll...
Mühsam öffne ich meine immer noch brennenden Augen und fahre mir mit einer Hand über das Gesicht.
Dabei drehe ich mich gähnend von der Seite auf den Rücken, wodurch mein Kopf in die Ecke zwischen Arm- und Rückenlehne des Sofas rutscht.
Die Ecke, in der gestern Abend noch Imke gesessen hat...
Imke!
Mit einem Schlag fahre ich hoch und stütze meinen Kopf einen Moment später stöhnend in meine Hand, als das Wohnzimmer vor mir zu schwanken beginnt.
Vielleicht sollte ich so kurz nach dem Aufwachen nicht so ruckartige Bewegungen machen...
Aber auch trotz der taumelnden Schiffsatmosphäre erkenne ich, dass Imke nicht im Wohnzimmer ist.
Komisch...wie hat sie es denn geschafft, sich unter mir wegzubewegen, ohne mich dabei aufzuwecken?
So eng, wie ich mich an sie gekuschelt habe, war das bestimmt gar nicht so leicht...
Ich spüre, wie mir bei dem Gedanken daran eine leichte Hitze in die Wangen steigt.
Wie sie mich gehalten hat...
So nah an sich gedrückt, dass ich ihren gleichmäßigen Herzschlag an meiner Brust spüren konnte.
Und die sanften Streichbewegungen ihrer Finger, mit welchen sie durch meine Haare gefahren ist.
Aber all das war nichts im Vergleich zu diesem Gefühl, welches währenddessen durch meinen Körper gerauscht ist.
Ein Gefühl von Wärme, Sicherheit und Lie-...Mitgefühl.
Ja, genau...Mitgefühl.
Immerhin hat Imkes Exmann den Anstand gehabt und hat mit ihr über seine Gefühle für eine andere Frau gesprochen, ehe er etwas mit ihr angefangen hat, im Gegensatz zu Henrik.
Wobei ich aber ehrlich gesagt auch nicht glaube, dass Henrik etwas für diese fremde Blondine, mit der ich ihn erwischt habe, empfindet.
Wahrscheinlich hat er sie einfach nur auf der Party aufgegabelt, auf der er sich gestern rumgetrieben hat.
Schließlich kann er unfassbar charmant sein, wenn er will.
Und von dem, was ich mitbekommen habe, schien diese Blondine ja sehr angetan von ihm gewesen zu sein...
Erinnerungen an vergangene Nacht drängen sich mehr und mehr in mein Bewusstsein und schnüren mir immer fester den Hals zu, als mich ein abruptes Klappergeräusch aufhorchen lässt.
Das kommt doch aus der Küche...
Etwas umständlich strample ich die Decke, welche immer noch um meinen Körper geschlungen ist, von mir weg und schwenke meine Beine über den Rand des Sofas, um aufzustehen und mit noch leicht wackeligen Schritten durch das Wohnzimmer in Richtung Flur und von dort aus weiter zur Küche zu tapsen, nur um kurz darauf gegen etwas im Türrahmen zu prallen...
„Hoppla!“, ruft Imke aus und balanciert geschickt die hellblaue Tasse in ihrer Hand so, dass sich nichts von dem sich darin befindenden Kaffee auf Wanderschaft begibt, ehe sie mir einen mehrfach blinzelnden Blick zuwirft, so als wäre sie überrascht und...verunsichert...mich hier zu sehen.
Aber warum?
Hat sie gedacht, ich würde noch schlafen?
Oder hat sie angenommen, dass ich, sobald ich aufwache, einfach still und heimlich das Haus verlasse?
So wie ich es schon einmal getan habe, als Imke auf dem Sofa eingeschlafen ist...
Hat sie nicht mehr mit meiner Anwesenheit gerechnet?
Oder hat Imkes Blick einen ganz anderen Grund?
„Ähm...g-guten Morgen, I-Imke“, stammle ich und ziehe meinen Kopf ein wenig zwischen die Schultern, während ich Imke entschuldigend ansehe, „i-ich...ähm...tut mir Leid, ich
wollte dich nicht erschrecken...“
„Das...ähm...das ist schon in Ordnung, Tessa. Es ist ja nochmal alles gut gegangen. Und ich...ähm...ich wünsche dir auch einen guten Morgen.“
Auch wenn sie es zu kaschieren versucht, höre ich deutlich das leichte Zittern in Imkes Stimme.
Komisch...was ist denn nur mit ihr?
Sie verhält sich ganz anders als gestern Abend, als sie mich so liebevoll in den Arm genommen hat.
Oder ist es vielleicht gerade das?
Ist ihr diese Nähe im Nachhinein doch unangenehm gewesen?
Hat sie es nur gemacht, weil ich wegen Henrik so aufgelöst war?
Weil sie mir einen Gefallen tun wollte?
Und bereut sie es jetzt vielleicht?
Habe ich mich ihr doch zu sehr aufgedrängt?
Und weiß sie deswegen nicht, wie sie jetzt mit mir umgehen soll?
Während sich die Fragen immer mehr in meinem Kopf überschlagen, tritt Imke von einem Fuß auf den anderen, bis sie mir etwas unbeholfen die Kaffeetasse in ihrer Hand
entgegenstreckt.
„Ähm, möchtest du vielleicht?“
„Äh...“
Trotz meines sprachlichen Totalausfalls nicke ich geistesgegenwärtig und greife nach der Tasse in Imkes Hand, kann jedoch nicht verhindern, dass ich leicht zusammenzucke, als meine Finger dabei über die von Imke streifen.
Imke scheint es ähnlich zu gehen, denn nachdem ich die Tasse umfasst habe, zieht sie ihre Hand so schnell zurück, als hätte sie sich an meinen Fingern verbrannt, was mein Herz
noch mehr sinken lässt.
Bemüht mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, führe ich die Tasse langsam an meinen Mund und nehme einen kleinen Schluck, während Imkes grüne Augen mich nachdenklich betrachten.
„Wie geht es dir, Tessa? Also, ich meine aufgrund deiner gestrigen...Erkenntnisse?“
Sie beißt sich auf die Unterlippe, so als wüsste sie nicht, ob sie die richtigen Worte gewählt hat, woraufhin ich nur leicht mit den Schultern zucke und mein Spiegelbild in dem dunkelbraunen Kaffee mustere.
„Ich weiß nicht. Also...es ist besser als gestern Abend.
Aber trotzdem möchte ich Henrik heute nicht sehen. Und in unsere Wohnung möchte ich ehrlich gesagt auch nicht zurück...“
„Was auch mehr als nachvollziehbar ist.“
Imkes Einwurf lässt mich überrascht aufschauen und die Augenbrauen ein Stück heben, während Imke mich weiterhin ruhig ansieht.
Habe ich mich ihr doch nicht zu sehr aufgedrängt?
Bereut sie es doch nicht, dass wir gestern Abend so nah beieinander...
„Du möchtest wahrscheinlich sicher gleich zu Evelyn fahren, oder?“, unterbricht Imkes Stimme meine Gedanken und ich muss ein paar Mal blinzeln, ehe ich ihre Frage verarbeitet habe und mein Herz erneut schwerer wird.
„Ich, ähm...ja. Ich denke schon, dass ich fürs erste bei Evelyn unterkommen könnte, bis ich weiß, wie es weitergeht“,
beginne ich, während mein Hals sich mehr und mehr zuschnürt, „aber...also...ehrlich gesagt würde ich heute gerne noch hier bleiben. Aber natürlich nur, wenn das für dich in
Ordnung ist.“
Nun ist es Imke, die etwas überrascht zu sein scheint.
Zumindest verraten mir das ihre abrupt größer werdenden Augen und ihr vor Erstaunen leicht geöffneter Mund, auf welchem sich zu meiner stillen Freude schließlich ein zartes
Lächeln abzeichnet.
„Ja, das...das fände ich sehr schön.“

Liebe Zwischen Den Zeilen (Imke & Tessa) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt