# 61

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- Imke -

„Du hast uns immer noch nicht gesagt, warum Tessa schon wieder weg war, als wir mit Tante Evelyn zurückgekommen sind“, sagt Mathilda, als ich die Bettdecke über ihr ausbreite und sie dessen Deckenrand mit ihren kleinen Fingern umfasst.
„Ja, genau“, pflichtet Mathis ihr bei, der sich in seinem Bett wieder aufgesetzt hat und mich mit schief gelegtem Kopf ansieht, „ging es ihr wieder nicht gut?“
„Nein, keine Sorge, ihr beiden“, sage ich leise und zupfe die Decke über Mathildas Körper zurecht, „Tessa ging es gut, aber sie...sie hatte noch einen Termin, weshalb sie auch schon so schnell wieder los musste.“
„Ein Termin?“, Mathis legt seinen Kopf noch schiefer, „was denn für ein Termin?“
„Na ja“, ich atme tief ein und rücke meine Brille ein Stück zurecht, während ich auf Mathildas Bettkante Platz nehme, „es ist eigentlich weniger ein Termin und mehr ein Treffen. Mit...mit ihrem Exfreund Henrik.“
„Was ist ein Exfreund?“, fragt Mathilda und ich sehe, wie sich kleine Falten der Verwirrung auf ihrer Stirn bilden, was mich halb aufseufzen und halb lächeln lässt.
„Nun, Tessa und Henrik waren für einige Zeit ein Paar, haben sich dann aber vor kurzem getrennt.“
„Und warum?“, hakt Mathilda nach und runzelt ihre Stirn noch weiter, „hat sich dieser Henrik auch in eine andere Frau verliebt, so wie Papa?“
„Ähm...so etwas ähnliches“, ich räuspere mich kurz, „aber das ist jetzt auch nicht so wichtig. Jedenfalls trifft Tessa sich heute mit Henrik und sie musste deswegen auch wieder so schnell los, weil sie sich noch in Ruhe dafür fertig machen wollte.“
„Aber warum treffen sich die Beiden denn überhaupt?“, fragt nun Mathis, der seinen Kopf in die andere Richtung schief legt.
„Zum...reden.“
Zumindest hoffe ich das...
Nach unserem Kuss und meiner Bitte einer zweiten Chance war Tessa ungewöhnlich still gewesen und hat mich anfangs nur mehrfach blinzelnd angeschaut, bis sie sich endlich nach einigen quälend langen Augenblicken geräuspert und mir gesagt hat, dass sie nachdenken muss und mich um ein bisschen Zeit gebeten hat.
Was auch immer das bedeutet...
Aber wenn Tessa mich darum bittet, werde ich ihr diese Zeit natürlich geben.
„Zum reden?“ Nun runzelt auch Mathis seine Stirn. „Aber dann können sie doch auch telefonieren. Dann muss Tessa sich auch nicht für so ein Treffen fertig machen und hätte länger hier bleiben können.“
„Ja, schon“, ich nicke langsam, während mein Magen sich zusammenzieht, „aber manche Dinge muss man wahrscheinlich einfach persönlich besprechen.“
Mathis’ verkniffene Lippen und sein verzogenes Gesicht zeigen deutlich seine Unzufriedenheit mit meiner Antwort.
„Erwachsene sind echt komisch“, brummt er nach einer Weile, was mich zu meiner Überraschung etwas lächeln und erneut nicken lässt.
„Ja, da hast du wohl Recht, Großer.“
„Konnte Tessa dich denn ein bisschen aufheitern, Mama?“, fragt Mathilda weiter, wodurch ich meinen Kopf zurück zu ihr drehe und ihr sanft über ihr dunkles Haar streiche.
„Ja...ein bisschen...“

- Tessa -

„Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie wunderschön du heute Abend aussiehst, Tessie?“
„Ja, das hast du.“
Mittlerweile zum fünften Mal...
Ich kann mich gerade noch rechtzeitig mit einem Biss auf die Unterlippe davon abhalten, meine Gedanken auszusprechen, während ich Henrik dabei zusehe, wie er einen großen Schluck von seinem inzwischen sechsten Champagnerglas nimmt, während ich bislang nur ein einziges Mal zum Anstoßen daran genippt habe.
Trotzdem bin ich mir sicher, dass Henrik sich nichts dabei denken wird, da ich von dem mehrgängigen Abendessen ebenfalls kaum einen Bissen herunterbekommen habe.
Zum einen, weil ich diesem extravaganten Essen noch nie etwas abgewinnen konnte...was Henrik eigentlich weiß oder zumindest inzwischen wissen sollte...und zum anderen, weil Henrik sich ausgerechnet den „Königshof“ als Ort für unser Treffen ausgesucht hat.
Das Restaurant, in dem Imke ihre ganzen bisherigen Blind Dates hatte.
Kein Wunder also, dass mir bei diesem Gedanken jeglicher Appetit vergeht, zumal ich seit unserer nachmittäglichen Begegnung sowieso schon permanent an sie denken muss...
Ob ich sie mit meiner Bitte um Bedenkzeit vor den Kopf gestoßen habe?
Aber nein, dafür hat sie viel zu verständnisvoll reagiert...
Und außerdem brauche ich diese Zeit auch, denn wenn Imke wieder einen Rückzieher machen sollte, weiß ich wirklich nicht, ob und wie ich das ein weiteres Mal verkraften soll...
„Na ja, man kann es ja auch nicht oft genug erwähnen, oder?“, holen Henriks Worte mich aus meinen Gedanken zurück, der mittlerweile sein Glas zurück auf den Tisch gestellt hat und mich schief angrinst, „dieses blaue Kleid hat mir an dir schon immer am besten gefallen. Es bringt nämlich deine Augen so wunderbar zur Geltung.“
Früher hätte mich ein solches Kompliment aus Henriks Mund erröten und verlegen zur Seite schauen lassen, aber jetzt bringe ich nicht mehr als ein müdes Lächeln zustande.
Er muss doch auch diese angespannte Distanz zwischen uns bemerken...oder nicht?
Oder ist es ihm egal?
„Ja, ich weiß. Danke, Henrik.“
„Nicht dafür, Tessie.“ Henrik zwinkert mir immer noch grinsend zu und nimmt einen weiteren Schluck von seinem Glas, ehe er es mit einem Räuspern erneut zurückstellt. „Wie auch immer, ich habe da übrigens noch etwas für dich...“
„Ach, Henrik“, seufze ich und kann dabei nur schwer den leicht verärgerten Unterton in meiner Stimme verbergen, „ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass ich keine
unangekündigten Geschenke mehr von dir möchte.“
„Das ist auch kein Geschenk. Also, nicht wirklich“, Henriks braune Augen funkeln vor Belustigung, „ich gebe dir lediglich etwas zurück, was du bei deinem Auszug in unserer Wohnung vergessen hast.“
„Vergessen?“ Verwirrt runzle ich die Stirn. „Was soll ich denn deiner Meinung nach vergessen haben?“
Schmunzelnd lehnt Henrik sich ein Stück zur Seite, um besser in seine Hosentasche greifen zu können und ich muss schwer schlucken, als ich sehe, wie er etwas Glitzerndes daraus
hervorzieht.
„Na, das hier“, sagt Henrik und hält mir die goldene Kette mit dem Herzanhänger hin, die ich bei meinem Auszug auf der Kommode im Flur zurückgelassen habe, „ich meine, jetzt wo wir wieder zusammen sind, möchtest du deine Kette doch sicherlich wiederhaben, oder?“
„Wir sind...wir sind...was?“
Mit einer Mischung aus Verwirrung und Fassungslosigkeit starre ich Henrik an, dessen Miene von der Veränderung meines Gesichtsausdrucks jedoch unberührt bleibt und er mir stattdessen weiterhin schmunzelnd die Kette über den Restauranttisch hinweg entgegenhält.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie das Pärchen am Nachbartisch zu uns hinüberlinst und die Frau dem Mann einen wimpernklimpernden Blick zuwirft, so als wolle sie ihm dadurch verständlich machen, dass sie auch gerne eine solche Aufmerksamkeit in Gold von ihm haben würde.
„Na, komm schon, Tessie“, Henrik streckt mir die Kette noch ein Stück näher entgegen, während er mich eindringlich ansieht, „jetzt zier dich doch nicht so. Was sollen denn die Leute um uns herum denken? Nimm die Kette einfach an und lass uns endlich diesen dummen Ausrutscher ein für allemal vergessen und da weiter machen, wo wir zuletzt aufgehört haben. Und...“
Das Klingelgeräusch meines Handys fällt Henrik wie eine erlösende Rettungssirene ins Wort und ich lasse beinahe meine Handtasche fallen, als ich sie hastig vom Nachbarstuhl auf meinen Schoß ziehe und mein Handy daraus hervorkrame.
Als ich Evelyns Namen auf dem Display lese, wäre mir beinahe ein erleichtertes Seufzen entwichen, doch stattdessen täusche ich nur ein kurzes Räuspern vor.
„Tut mir Leid, da muss ich leider rangehen. Es ist Evelyn.“
Zum ersten Mal an diesem Abend sehe ich, wie Henriks aufgesetzte Maske des schmunzelnden Kavaliers leichte Risse bekommt und sein Gesicht einen unzufriedenen Ausdruck annimmt, welchen er jedoch versucht, mit einem großzügigen Nicken zu überspielen.
„Natürlich, Tessie. Ich warte so lange auf dich...mit der Kette.“
„Ja, ähm...alles klar“
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und nehme das Telefonat an, während ich aufstehe und mich mit eiligen Schritten und meiner Handtasche über der Schulter auf den Weg zum Ausgang des Restaurants mache.
„Na, endlich!“, höre ich Evelyn am anderen Ende der Leitung aufseufzen, „ich habe schon gedacht, dein Akku wäre leer oder du wärst verschollen.“
„Jetzt bin ich ja da“, entgegne ich und umschlinge fröstelnd meinen Körper mit meinem freien Arm, als ich nach draußen vor das Restaurant trete, „was gibt es denn?“
„Das frage ich dich. Wo bleibst du denn? Ich dachte, du wolltest dieses Treffen so schnell wie möglich beenden, aber mittlerweile geht das Ganze ja schon über drei Stunden.“
„Ja, ich weiß. Tut mir Leid“, murmle ich zerknirscht und schiebe mich an einer der hohen Säulen am Eingang vorbei, um mit langsamen Schritten an der cremefarbenen Hauswand entlangzugehen, dessen hohe Fenster einen guten Einblick in das Innere des warmbeleuchteten Restaurants bieten, „aber es ging nicht. Henrik hatte einen Tisch im „Königshof“ reserviert und...“
„Im „Königshof“?“, ich kann das Augenrollen in Evelyns genervtem Stöhnen hören, „oh Mann, dieser verfluchte Laden bringt weder Imke noch dir Glück.“
„Ja, kann sein“, erwidere ich und presse meine Lippen für einen Augenblick fest aufeinander, ehe ich mit einem Räuspern fortfahre, „jedenfalls hat Henrik ein riesiges Menü bestellt mit mehreren Gängen, Champagner und allem drum und
dran...und da kann ich ja nicht einfach mittendrin weggehen.“
„Warum nicht?“
„Ähm, was?“
„Na ja, du hast doch zwei gesunde Beine, oder?“
„Ja, natürlich! Aber...“
„Dann verstehe ich ehrlich gesagt nicht, warum du nicht schon längst von diesem Treffen verschwunden bist. Oder vielmehr, warum du in erster Linie überhaupt hingegangen
bist.“
„Weil...weil ich...ach, verdammt!“ Mit einem hilflosen Laut der Verzweiflung fahre ich mir durch die Haare und lege anschließend mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken.
„Ich weiß es auch nicht, okay?! Ich weiß nicht, warum ich das Treffen mit Henrik nicht abgesagt habe! Ich weiß nicht, warum ich nicht schon längst aus diesem Restaurant verschwunden bin! Ich weiß nicht, warum ich Henrik nicht endgültig den Laufpass gebe, obwohl ich weiß, dass ich nichts mehr für ihn empfinde! Ich...ich weiß gerade einfach gar nichts, okay?! Seit ich vorhin mit Imke gesprochen habe, ist alles irgendwie so...so verwirrend...“
„Weil sie dir ihre Gefühle gestanden hat?“
„Ja“, murmle ich kraftlos und öffne meine Augen wieder, um einen teilnahmslosen Blick durch die Fenster ins Restaurant zu werfen, bis meine Augen an Henrik hängen bleiben, der sich in seinem Stuhl an unserem Tisch zurückgelehnt hat und
mit ungeduldigem Blick auf seine Armbanduhr schaut.
„Ich...ich will einfach nicht nochmal so verletzt werden. Das...das schaffe ich nicht...“
„Das verstehe ich, Tessa“, sagt Evelyn mitfühlend und ich höre, wie sie tief durchatmet, „darf ich dir vielleicht einen Vorschlag machen?“

Liebe Zwischen Den Zeilen (Imke & Tessa) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt