Den Anderen geht es genauso schlecht

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Lieber Herr B,

Was ich Ihnen noch sagen wollte: „Den Anderen geht es genauso schlecht."

Wissen Sie, ich kann Ihre Situation sogar wirklich verstehen. Ihrer Tochter geht es schlecht, sie geht seit Monaten nicht in die Schule, lacht nicht mehr, verlässt nie das Haus und scheint den Spaß am Leben vollkommen verloren zu haben. Vielleicht fühlen Sie sich schuldig, vielleicht haben Sie damit sogar in Teilen Recht. Ich weiß es nicht, ich kenne Sie nicht.

Sie haben gehört, die Therapieerfolge bei uns seien gut. Anscheinend bewirken wir Wunder. Das würde ich zwar hinterfragen wollen und auch nicht annähernd so schillernd-schön betrachten, aber gut. Meine innere Zynikerin behauptet: Egal ob wir gut oder schlecht sind, wir sind schlicht und ergreifend die einzigen in der Gegend. Tatsache: Es gibt keine Alternativen zu uns, nicht wirklich. Kinder- und jugendpsychiatrische Tageskliniken sind rar.

Sie wollen die bestmögliche Behandlung für ihre Tochter. Das respektiere ich. Tatsächlich finde ich es sogar fabelhaft, dass sie sich kümmern. Glauben Sie mir, ich habe oft mit Eltern zu tun, die sich nicht kümmern. Die nichts unternehmen. Die es vielleicht sogar noch schlimmer machen.

Sie kümmern sich. Wie gesagt, Respekt dafür. - Und jetzt hören Sie bitte auf, mich ständig anzurufen. Ich kann Ihnen gerade noch nicht helfen.

Ihre Tochter ist bei uns auf der Warteliste. Unsere Warteliste ist lang. Ihre Tochter steht weit hinten. Ob wir sie vorziehen können, weil es ihr so schlecht geht? Nun, den 25 anderen, die vor ihr stehen, geht es genauso schlecht. Wir haben momentan insgesamt 34 Kinder und Jugendliche auf der Warteliste und jedem und jeder einzelnen davon geht es wirklich schlecht. Genau deshalb sind sie auf unserer Warteliste. Da steht kein einziges glückliches, gesundes Menschlein drauf.

Um Ihnen die Dimensionen genauer vor Augen zu führen: Vor der Pandemie, eigentlich, damals, hatten wir 15 Betten. - Tatsächlich hatten wir kein einziges Bett, aber in Krankenhäusern sagt man nunmal Betten statt Plätze. Deshalb reden wir also von Betten, obwohl der Ausdruck „Sitzplätze am Tisch" eigentlich korrekter wäre. - Mit der Pandemie haben sich unsere Betten auf 13 reduziert. Wir sind schon damals der Nachfrage kaum gerecht geworden. Und ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Die Nachfrage hat nicht nachgelassen. Im Gegenteil.

Wir witzeln immer: Man müsste nur auf das riesige Brachland hinter unserem Gebäude zwei weitere Kliniken bauen. Dann noch Personal einstellen. Und dann könnten wir der Nachfrage wieder einigermaßen gerecht werden. Problem gelöst.

Woher das Geld dafür kommen soll? Mit der Wirtschaft Richtung unten, Pandemie und Krieg? Woher das Personal kommen soll? Mit chronischem Ärztemangel und Pflegenotstand? Ich habe keinen blassen Schimmer. Immerhin haben zu Beginn der Pandemie alle für die Pflege geklatscht, das muss doch zu irgendwas gut gewesen sein. Oder auch nicht.

Es hat 15 Jahre gedauert, bis aus der ersten Planung unsere jetzige Klinik entstanden ist. Und eigentlich war die noch nicht einsatzbereit, als wir eingezogen sind. Aber wer braucht schon fließend Wasser und Strom? Kein Scherz, als wir die ersten Patienten behandelt haben, war ein Großteil des Gebäudes noch im Rohbauzustand. Immerhin ist das mittlerweile behoben, wir haben sogar funktionierende Drucker - das hat am längsten gedauert, aber immerhin nur zwei Jahren.

Ist die absolute Unterversorgung ein Problem? Ja. Können wir sie gerade lösen? Nein. Was wir tun können, ist, unsere Warteliste abzuarbeiten. Ein kleines Wunder nach dem anderen. Und wenn Ihre Tochter irgendwann an der Reihe ist, rufe ich Sie an. Versprochen.

Was ich dir noch sagen wollte...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt