Mir fehlen die Worte...

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Liebe Frau A,

Was ich Ihnen noch sagen wollte: "Mir fehlen die Worte..."

Als wir Ihre Tochter bei uns entlassen haben, war eigentlich alles geklärt: Es gab einen Schulplatz, sie ging auch tatsächlich hin, beim Jugendamt war eine weitere Unterstützung beantragt und Sie wollten sich um Therapieplätze kümmern. Bis dahin kommt ihre Tochter zu mir zur Überbrückung.

War schon ein bisschen blauäugig von mir anzunehmen, dass das so klappen könnte.

Ihre Tochter war genau bei einem einzigen Nachsorgetermin, danach kam sie einmal nicht wegen "zu viel zu tun für die Schule" - klar, abends um 17 Uhr, da wird sie sehr sicher noch lernen. Nicht. Zum nächsten Termin kam sie nicht, weil sie mit Freunden raus ist - guter Grund, aber es wäre trotzdem schön gewesen, den Termin abzusagen. Und beim dritten Nichterscheinen habe ich nicht mehr angerufen, sondern das Ganze laufen lassen. Wer nicht will, hat schon.

Dann ein Anruf: Sie haben Ihre Wohnung gekündigt, relativ spontan wohl, in einem akuten Anfall von Wut auf Ihren Vermieter. Er sei so unfreundlich gewesen, haben Sie mir erzählt. Dann haben Sie mich gefragt, ob ich vielleicht eine freie Wohnung wüsste. Bitte gerne mit mindestens zwei Zimmern, immerhin haben Sie ja zwei Kinder, und bezahlbar, Sie leben ja von Hartz IV.

Damals schon haben Sie sich ernsthaft bei mir beschwert, dass Ihnen niemand erklärt hat, wie schwer es ist, eine Wohnung zu finden. Niemand hat Ihnen gesagt, dass man die alte Wohnung erst kündigt, wenn man eine neue Wohnung gefunden hat. Und das tragische daran: Sie meinen das wirklich ernst!

Konnte Ihnen trotzdem nicht helfen. Ich bin Psychotherapeutin, keine Immobilienmaklerin.

Soweit also mein Sachstand bis gestern morgen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich seit einem guten Monat nichts mehr von Ihnen oder Ihrer Tochter gehört. Dann kam alles Schlag auf Schlag.

Morgens kam ein Anruf vom Jugendamt. Leider war ich nicht direkt am Telefon. Die Kollegin ließ ausrichten, dass Sie dort alle Termine verpasst hatten, die schriftlichen Unterlagen nicht wie vereinbart eingegangen waren, Sie telefonisch nicht erreichbar seien und die Lage allgemein gerade sehr unklar sei. Wie denn meine Einschätzung sei. Sei ihre Tochter in Gefahr, oder könne das Jugendamt die Maßnahmen vorerst einstellen?

Tja. Keine Ahnung. Ich habe Sie leider auch nicht erreicht.

Um 13 Uhr hatte ich Ihre tränenerstickte Nachricht auf dem Anrufbeantworter, dass Ihre Tochter einen erneuten Suizidversuch begangen habe. Sie bitten um einen Rückruf. Und sind telefonisch weiterhin nicht erreichbar.

Um 15 Uhr schicken Sie mir eine Mail. Es geht um "einen weiteren dringlichen Fall": Sie brauchen ein ärztliches Attest, um die Zwangsräumung Ihrer Wohnung doch noch verhindern oder zumindest aufschieben zu können. In Ihrer eidesstattlichen Stellungnahme vor dem Amtsgericht, die Sie mir netterweise gleich noch als Foto anhängen, sagen Sie aus, Ihre Tochter habe vor mittlerweile einer Woche einen Suizidversuch begangen und sei glücklicherweise von Freunden aufgehalten worden. Sie sei akut suizidal und könne unmöglich umziehen. Es gebe mehrmals die Woche therapeutische Kontakte, Ihre Tochter werde engmaschig beobachtet.

Daran gibt es nun wirklich gleich mehrere Dinge, die mich massiv stören. Mal davon abgesehen, dass zumindest der Part mit den engmaschigen therapeutischen Kontakten schlichtweg gelogen ist.

Eine akut suizidale Tochter gehört in die Klinik. Punkt. Wenn Sie sich nach dem Suizidversuch eine geschlagene Woche nicht bei uns melden, ist das entweder grob fahrlässig oder lässt Rückschlüsse darauf zu, dass ihre Tochter vielleicht doch nicht ganz so suizidal ist, wie Sie das Gericht glauben lassen wollen. Die dritte Option gefällt mir ganz besonders schlecht: Dass ihre Tochter nun wieder suizidal geworden ist, weil Sie das gerade brauchen. Ihre Tochter ist sehr fürsorglich Ihnen gegenüber. Und wenn sie suizidal sein muss, damit Ihre Mutter die Wohnung behalten kann, kann es durchaus sein, dass sie diesen Auftrag erfüllt.

Da ich das alles zwar vermute, aber eben nicht sicher weiß, bin ich nun also aktiviert. Und erreiche Sie nach wie vor nicht telefonisch. Deshalb schreibe ich Ihnen eine Mail und bitte Sie darum, am kommenden Tag zum Termin zu erscheinen. Mit ihrer Tochter.

Kurz vor Feierabend erreiche ich noch endlich das Jugendamt. Wir sind uns einig, dass wir weiter versuchen werden Sie zu erreichen, das Jugendamt aber vorerst keine Maßnahmen einleiten wird. Schlicht, weil wir nicht genug wissen und das Jugendamt damit keine Handlungsgrundlage hat, solange von Ihnen kein Antrag eingegangen ist. Oder sich Ihre Tochter nicht selbst meldet.

Sie kommen zum Termin ohne Tochter, aber dafür mit Ihrer Mutter. Was auch immer ich mit Ihrer Mutter anfangen soll, zumal die Dame kaum deutsch spricht, auch wenn sie wohl früher im Landratsamt ehrenamtlich gedolmetscht hat, wie Sie mir stolz erzählen. Keine Ahnung wie das ging, vielleicht hat sie ja andere Sprachen übersetzt als deutsch.

Sie kommen ausschließlich wegen des Attests. Als ich nach Ihrer Tochter und dem Suizidversuch frage, erklären Sie mir, es habe da ein Missverständnis gegeben. Ihre Tochter habe nicht versucht, sich umzubringen, sondern nur die Gleise überqueren wollen. Als ich darauf hinweise, dass auch das gefährlich ist, übernimmt Ihre Mutter die Verantwortung: Sie habe Ihrer Enkelin zum 9€-Ticket geraten. What the fuck??

Natürlich haben Sie dieses Missverständnis auch beim Amtsgericht schon richtig gestellt. Klar. Wäre das nicht sonst ein Meineid? Mit dem Jugendamt haben Sie auch schon telefoniert, ja genau, gestern Abend noch. Da ist auch alles geklärt, den Antrag reichen Sie nach und die Maßnahmen können starten. Und Sie sind ja so froh, dass Ihre Tochter weiterhin regelmäßig zu mir kommt. Ob Sie jetzt bitte das Attest haben können?

Unterm Strich haben Sie keine Ahnung, was Ihre Tochter so treibt. Sie kümmern sich nur um Ihre Räumungsklage. Was natürlich ein dringliches Thema ist, nur bringt Ihnen Ihre Wohnung auch wenig, falls Ihre Tochter vorher sterben sollte. Nun gut, akut suizidal scheint sie nicht zu sein. Und Ihre Tochter macht seit Jahren ihr eigenes Ding.

Ein Attest kriegen Sie nicht. Wir schreiben keine Atteste. Was sollte ich denn auch da reinschreiben: Mutter sagt, Tochter sei suizidal, Behandlung findet aber keine statt? Zumal Sie mir ja gerade erzählt haben, es sei sowieso alles ein Missverständnis gewesen. Soll ich dann schreiben: Tochter ist gesund, war alles ein Missverständnis?

Sie sind hochgradig unbegeistert. Ihr eigener Arzt hätte Ihnen ein Attest ausgestellt ohne mit der Wimper zu zucken. Ich bin kurz versucht, nach den Kontaktdaten des Arztes zu fragen, um den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte zu überprüfen. Bei mir bleibt das Gefühl, dass Sie mich verarschen. Und ich lasse mich wirklich sehr ungern verarschen. Das Gefühl, manipuliert und instrumentalisiert zu werden, führt bei mir zu einer unmittelbaren Trotzreaktion. Jetzt erst recht nicht mehr.

Sie kriegen eine neue Version unseres Entlassbriefs, der Ihnen zwar vor Wochen schon zugegangen ist, den Sie aber offensichtlich verschlampt haben. Sie kriegen ihn sogar unterschrieben, der Stempel: EDV-Abschrift, ohne Unterschrift gültig. reicht Ihnen nicht. Ich schreibe eine Mail mit dem neuesten Sachstand ans Jugendamt und hoffe, zumindest dieser Teil Ihrer Geschichte stimmt. Am Dienstag werde ich mehr wissen.

Und ich versuche mal wieder, Ihre Tochter zu erreichen. Wenn ich sie irgendwann wieder sehen sollte, werde ich ihr wieder raten, sich ans Jugendamt zu wenden und in eine Wohngruppe zu gehen. Oder sich gleich in Obhut nehmen zu lassen. Wie wir es ja eigentlich schon geplant hatten.

Was ich dir noch sagen wollte...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt