Hör doch einfach auf damit!

6 2 2
                                    

Liebe A,

was ich dir noch sagen wollte: "Hör doch einfach auf damit!"

Verfluchte Scheiße, kannst du mir mal sagen warum du nach sechs Monaten Behandlung anderthalb Wochen vor Entlassung jetzt noch eine solche Krise schieben musst? Und dann noch auf eine so dermaßen destruktive Art und Weise?

Du bist dabei, dein Leben mit Vollgas vor die Wand zu setzen. Und zwar mit Vorankündigung und trotz Warnungen und Versuchen, dich davon abzuhalten. Du hast so Schiss davor, enttäuscht zu werden, von Menschen, von der Welt, vom Leben, dass du dem Ganzen überhaupt keine Chance mehr gibst. Du gibst auf, ohne es auch nur versucht zu haben. Und es macht mich hilflos und so, so wütend, dir dabei zuschauen zu müssen. 

Heute sitzt du ernsthaft vor mir und erzählst mir was von "Ich geh nicht in die Schule, Schule ist Scheiße, ich bleib lieber daheim in meinem Bett liegen und mach nix, und außerdem hab ich keinen Bock auf meine Klassenkameraden, die sind alle Scheiße, und Freunde will ich auch nicht, und außerdem hab ich es sowieso nicht verdient glücklich zu sein." - Warum nicht? - "Ich bin einfach ein schlechter Mensch. Mein Freund hat mich verlassen, weil ich eine schlechte Freundin war, ich habe keine Freunde, weil ich eine schlechte Freundin bin,  und mein Vater war Scheiße zu mir, weil ich eine schlechte Tochter bin."

Ich hätt dich an die Wand klatschen können. Ja, Depressionen verändern die Wahrnehmung und Interpretation von Erlebnissen, ja, die Neurotransmitter in deinem Hirn sind aus dem Gleichgewicht geraten und machen unlustige Dinge mit deiner Reizweiterleitung, ja, du hast in deinem kurzen Leben schon viel zu viel Mist erlebt.

Aber wie kann denn plötzlich alles wieder weg sein, was du dir so mühevoll erarbeitet hast? Wo sind die letzten sechs Monate hin, in denen du gelernt hast wieder zu lachen, dir selbst zu vertrauen, dich anderen Menschen zu öffnen, in denen du Freundschaften geschlossen und so viele schöne Momente erlebt hast? Du warst doch schon mal so viel weiter, was soll das denn? Warum gibst du denn jetzt einfach so auf? So viel Arbeit und alles für die Katz!

Lass uns deine Aussagen doch mal genauer anschauen. Schlechte Tochter, schlechte Freundin, schlechte Partnerin.

Dein Vater war und ist Scheiße zu dir, weil er ein versoffener Mistkerl ist, der mit seinem Leben nicht klarkommt und irgendwen braucht, dem er die Schuld für sein Versagen geben kann. Warum denn nicht einfach der eigenen Tochter, die eignet sich doch wunderbar als Sündenbock für alles? Und ja, du musstest dir den Mist und die Kritik und die Beschimpfungen und die Vorwürfe jahrelang anhören, dein ganzes Leben lang. Und das Unfaire: Du glaubst ihm, weil du noch nicht alt genug bist, weil er eben doch dein Vater ist. Du sagst zwar, er sei dir egal, aber wir wissen beide, dass das Humbug ist.

Deine Freunde haben sich von dir abgewandt, weil sie mit deinen nicht vorhandenen Konfliktlösestrategien nicht umgehen konnten. Du hast es nämlich mit deinen Freunden so gemacht wie dein Vater mit dir: Kompromisslos, radikal und ohne eine Möglichkeit, einen Streit hinterher nochmal zu besprechen oder sich gar zu versöhnen. Lieber andere verlassen oder von sich stoßen als verlassen werden. Du bist wie ein Igel, mit so vielen und spitzen Stacheln, dass die Welt dein weiches Innere nie zu sehen bekommt.

Und dein Freund? Ja, der hat dich verlassen. Und ja, es tut weh. Und ja, er war deine erste große Liebe. Kann alles sein. Aber ehrlich, er hat dich nicht verlassen weil du ein schlechter Mensch bist. Er hat dich verlassen, weil er mit deinen Depressionen nicht klarkam. Es sei ihm gegönnt, eine Freundin zu wollen, die auch mal am Wochenende mit ihm das Haus verlässt. Und mit seinen 15 Jahren war er wahrscheinlich auch einfach heillos überfordert. Andersrum wird ein Schuh draus: Du warst ihm so wichtig, dass er trotz allem neun Monate an deiner Seite stand.

Du sagst, du triffst immer die falschen Entscheidungen. Du bestrafst dich dafür, dass du eine ganz bestimmte Entscheidung getroffen hast. Ja, deine Entscheidung war falsch, im Nachhinein betrachtet. Nicht dass du das damals hättest absehen können. Dass es irgendjemand hätte absehen können, es war einfach nicht menschenmöglich das abzusehen. Faktisch haben sowieso deine Eltern diese Entscheidung getroffen, du hattest da herrlich wenig mitzureden. Und es ist auch nicht so, dass diese Entscheidung irgendwem geschadet hätte außer dir. Und dir schadet sie eigentlich auch nur, weil du dich ständig für sie bestrafst. - Verfickt nochmal.

Du triffst ständig beschissene Entscheidungen, jeden einzelnen verfluchten Tag wieder. Nur im Zimmer rumzugammeln, nicht in die Schule zu gehen, deine Klassenkameraden mim Arsch nicht anzuschauen, alle von dir zu stoßen ... Du entscheidest dich jeden einzelnen verfickten Tag wieder für deine Angst und für deine Depression. Gegen Veränderung. Gegen die Chance, glücklich zu werden.

Von daher: Ja, du triffst ganz unglaublich beschissene Entscheidungen. Du könntest aber auch jeden einzelnen Tag damit aufhören. Hör doch bitte einfach damit auf!

Was ich dir noch sagen wollte...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt