Schade, dass ich dich jetzt doch nie kennenlernen werde

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Lieber L,

Was ich dir noch sagen wollte: „Schade, dass ich dich jetzt doch nie kennenlernen werde."

Wir kennen uns nicht, haben uns noch nie gesprochen, geschrieben oder gesehen. Ich weiß nur, dass es dich gibt, nicht wie du aussiehst oder morgens deinen Kaffee trinkst. Dennoch hast du mein Leben, oder zumindest einen Teil davon, über die letzten Monate geprägt. Wahrscheinlich, ohne dass es dir bewusst war. Ich bin mir nicht mal sicher, ob du weißt dass es mich gibt. Wahrscheinlich schon, aber vielleicht auch nicht.

Was du getan hast, das mein Leben beeinflusst hat? Du hast eine Wildfremde auf Instagram angeschrieben und nicht locker gelassen, bis ihr euch täglich geschrieben und irgendwann telefoniert habt. Bis ihr euch tatsächlich getroffen habt, über alle Grenzen und ewig lange Busfahrten hinweg. Du hast dich verliebt. Und du hast sie dazu gebracht, sich auch in dich zu verlieben. - Nein, das war nicht ich. Dennoch war das alles eine enorme Leistung.

Was daran die besondere Leistung gewesen sein soll? Du hast für diese Beziehung ein halbes Psychologiestudium absolviert. Du hast in Fachzeitschriften gewälzt und alles über Beziehungen und Autismus recherchiert. Du hast es geschafft, für jemanden interessant zu sein, die sonst keinerlei Interesse an Menschen hat. Die sagt, Menschen im besten Fall als "ertragbar" zu erleben, meistens aber "ätzend, störend und nervig". Und du hast es geschafft, an ihren Eigenheiten und Narben vorbeizuschauen und die clevere, lustige, liebenswerte junge Frau zu sehen, die sonst kaum jemand zu sehen scheint.

Was das jetzt mit meinem Leben zu tun hat? Du hast mir für fast zehn Monate eine riesige Last von den Schultern genommen.

Als ihr euch kennengelernt habt, war ich in konstanter Sorge um sie, und das seit über zwei Jahren. Wir haben uns oft gesehen, teilweise hatten wir täglich Termine. Und dann noch eingeschobene Krisentermine zusätzlich. Mein einziges Therapieziel für sie war ihre Volljährigkeit, dass sie ihren 18. Geburtstag erlebt. Und wenn ich ehrlich bin, war ich mir nicht sicher, selbst dieses eigentlich basale Ziel zu erreichen.

Ich kann dir nicht mehr sagen, wie oft ich sie eingewiesen habe, wie oft sie nur mit Glück überlebt hat. Wie oft sie mit schlimmsten Verletzungen vor mir saß. Wir sind quasi von einer Krise in die nächste gestolpert, weil wir einfach nichts gefunden haben, was ihr Leben lebenswert gemacht hätte.

Und dann kamst du. Und alles wurde anders. Ich weiß nicht genau, wie du es angestellt hast. Sie lacht, sie lächelt, sie scherzt. Wir können an ihren Themen arbeiten, nicht immer nur über Lebensverträge und Verbote zum Betreten von Bahngleisen diskutieren. Sie hat eine Perspektive, einen Job. Ihr Leben ist nicht mehr konstant in Gefahr, und sie hat sich schon wirklich, wirklich lange nicht mehr ernsthaft verletzt.

Es ist erstaunlich, was Liebe alles bewirken kann. Wenn ich könnte, würde ich Liebe in Flaschen abfüllen und an alle unsere Patienten und Patientinnen verteilen. Und noch an manche Eltern. Und am besten an die ganze Menschheit. Im Kollegenkreis haben wir schon gewitzelt, ob wir vielleicht eine Partnerbörse aufmachen sollten.

Letztendlich hast du es jetzt doch nicht lebenslang ausgehalten, wie ihr beide eigentlich vereinbart hattet. Trotz all deiner Recherche hattest du wohl doch nicht verstanden, nicht wirklich zumindest, was eine Beziehung mit ihr für dich bedeutet. Die Missverständnisse, die Einschränkungen, die zusätzlichen Hürden. - Oder ihr seid einfach 17 Jahre und in dem Alter halten Beziehungen oft nicht für die Ewigkeit. Kann auch sein.

Egal aus welchem Grund es jetzt doch auseinander ging: Es ist in Ordnung. Es ist in Ordnung, wieder getrennte Wege zu gehen. Es ist in Ordnung, sich wieder mehr auf das eigene Leben und die eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren.

Du hast trotzdem mehr geschafft, als menschenmöglich schien: Du hast ihr einen Grund zum Leben gegeben. Das kann ihr niemand mehr nehmen: Die Erinnerung daran, glücklich gewesen zu sein, sich wohl gefühlt zu haben und sich geliebt zu fühlen. Ich hoffe, davon kann sie noch eine Weile zehren.

Dir wünsche ich, dass du alles hast was du brauchst, um mit deinem Leben zufrieden zu sein. Und dass du sie in guter Erinnerung behältst. Das habt ihr beide verdient.

Und falls du dir Sorgen machst, wie es nach eurer Trennung mit ihr weitergeht: Sie ist stabil. Keine Selbstverletzung, kein Suizidversuch. Tatsächlich wirkte sie heute zwar etwas sauer, weil sie die Trennung lieber montags gehabt hätte - der Wochentag passt anscheinend besser zu schlechten Nachrichten als ein Mittwoch. Du kennst sie, sie ist da etwas eigen. Aber sie steht noch mit beiden Beinen fest im Leben. In einem Monat wird sie 18, und ich bin guter Dinge.

Schade, dass ich dich jetzt doch nie kennenlernen werde. Du musst ein sehr interessanter Mensch sein.

Was ich dir noch sagen wollte...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt