Echt jetzt?!?

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Lieber F,

Was ich dir noch sagen wollte: „Echt jetzt?!?"

Ich habe doch schonmal davon gesprochen, dass Diagnosen immer in Wellen kommen. Erst hatte ich ständig Autisten, dann kamen die Mutisten ... und jetzt scheint wohl das Thema Sexualität aktuell zu werden.

Ist natürlich keine Diagnose und auch kein Grund, in eine psychiatrische Behandlung zu kommen. Um das ganz klar zu stellen, niemand wird für, gegen oder aufgrund seiner Sexualität behandelt (die Zeiten sind glücklicherweise vorbei), es steht ein jedem und jeder frei, seine oder ihre eigene Sexualität zu finden und (mit wenigen Ausnahmen) frei auszuleben.

Daher ist Sexualität auch, zumindest in einer Kinder-und Jugendpsychiatrie, meistens eher ein nachgeordnetes Thema. Das mag bei den Erwachsenen anders sein, sehr wahrscheinlich sogar. Bei uns geht es meistens eher um Freundschaften, vielleicht auch mal verknallt sein, aber in der Regel haben wir einfach andere Themen. Depression, Ängste, Autismus ... kennst du ja alles.

Momentan ist Sexualität und alles was damit zusammenhängt jedoch ein so großes Thema, dass ich gefühlt über nichts anderes mehr rede. Versteh mich nicht falsch, ich bin es schon lange gewohnt über alle möglichen und unmöglichen Themen zu sprechen. Man verliert einfach im Laufe der Zeit viele Hemmungen, wenn man oft genug über Themen wie Nasebohren, exzessives Masturbieren und Ausscheidungsstörungen redet. Aber die Frequenz momentan irritiert mich.

Kurze Zusammenfassung: Ihr seid zehn Jugendliche auf Station. S und M haben eine homosexuelle Beziehung, wobei M gerade überlegt, ob sie nicht auch in A verliebt ist (ebenfalls ein Mädchen). A bezeichnet sich selbst als bisexuell. R befindet sich tatsächlich in einer heterosexuellen Beziehung mit einer ehemaligen Patientin von mir, wobei da zwei Persönlichkeiten aufeinandertreffen, die man als turbulent bezeichnen könnte. B ist ein Trans-Junge, wenn auch noch etwas unentschlossen. J hat sich vor drei Tagen ebenfalls als Trans-Junge geoutet, C hat sich letzte Woche selbst als autistisch und asexuell diagnostiziert, genauso übrigens wie N. Tatsächlich lebte ich lange im Glauben, N sei in einer Beziehung mit L, aber da habe ich mich wohl geirrt.

Die wahrscheinlichste Erklärung für die vielen Outings der letzten beiden Wochen: Manchmal sind bestimmte Themen in Gruppenkontexten "ansteckend". Nicht im Sinne von Corona, Masken und Co, aber im Sinne von "Es ist einfach schön, dazuzugehören, und sei es nur weil man das gleiche Problem hat." Ich möchte ganz sicher niemandem seine Sexualität absprechen, aber die Entwicklung war einfach zu rasant.

Bliebst noch du.

Dann saßt du also vor mir, und hast mir auf deine typisch verschwurbelte Art eine Begebenheit von Station erzählt: Dann hat N gesagt, er habe noch nie eine Freundin gehabt, und dann hab ich gesagt, ich kriege auch nie eine Freundin, und dann hat L N angeschaut, und dann haben beide mich angeschaut, und ... zu dem Zeitpunkt ging mir ehrlicherweise durch den Kopf, dass du wahrscheinlich glaubst, nie eine Freundin zu kriegen, weil du für Mädchen nicht sonderlich interessant bist, aber es kam anders.

Weiter in der Erzählung: Dann hat L gefragt, warum ich das glaube, und dann hat N L angeschaut, und dann hab ich gesagt, weil ich nicht auf Mädchen stehe. Und dann schaust du mich mit großen Augen an und wartest auf meine Reaktion.

Innerlich: Soso, du stehst also nicht auf Mädchen. Auf was stehst du denn? Topfpflanzen, Traktoren, ... Und außerdem, soll mich das jetzt schocken? Wie soll ich denn deiner Meinung nach reagieren? Soll ich in Jubel ausbrechen oder doch eher so tun, als hätte ich ein Problem damit oder was? Was sitzt du denn jetzt vor mir wie ein junger Hund, der für irgendeine tolle Meisterleistung gekrault und gelobt werden möchte?

Äußerlich: Okay. - Und dann wartete ich darauf, dass du deine Geschichte weiter erzählst, weil ich zu dem Zeitpunkt immer noch erwartet habe, es käme noch irgendwas relevantes. Denn ganz ehrlich, du hast mir doch nicht wirklich zehn Minuten detailliert die Blickwechsel von N und L beschrieben, nur um rüberzubringen, dass du nicht heterosexuell bist? - Doch, hattest du. Die Geschichte war jedenfalls beendet.

Okay, dann tue ich dir eben den Gefallen und frage detaillierter nach. Du schaffst es, meine Fragen zu beantworten, ohne mir jemals zu sagen, auf was oder wen du jetzt letztendlich stehst. Eben nicht auf Mädchen. Das weißt du schon lange. Nein, du warst noch nie verliebt und findest auch niemanden attraktiv. Du hattest noch nie eine Beziehung. Deine Eltern wissen Bescheid und akzeptieren dich so, wie du bist. Freunde hast du nicht, daher musst du dich da auch nicht outen. Ein Problem mit deiner Sexualität hast du auch nicht, du fühlst dich wohl.

Das ist doch alles wunderbar. Warum reden wir denn dann da jetzt schon eine ganze Stunde drüber?

Die Frage ist wohl eher, worüber wir jetzt in der letzten Stunde leider nicht reden konnten. Dass du keine Freunde hast und noch nie wirklich welche hattest, dass dir außer deiner Familie zum letzten Geburtstag niemand (!!) gratuliert hat. Dass du mit deinen 17 Jahren keinen Schulabschluss hast, seit einem Jahr nicht in der Schule warst und es in den Sternen steht, ob du nach den Ferien wieder eine Schule besuchen kannst. Ob dich überhaupt noch eine Schule nimmt. Entsprechend offen ist auch die Frage, wie dein Leben so weitergehen soll. Was du beruflich machen willst, wie du dir dein Leben vorstellst, oder ob du mit 40 immernoch als hauptberuflicher Zocker im Keller deiner Eltern lebst und dein einziger menschlicher Kontakt der Pizzabote ist. Wie du wieder mit der Welt in Kontakt kommen willst, wie du Beziehungen zu anderen Menschen aufnehmen könntest, egal ob platonisch, hetero-, homo- oder sonst-was-sexuell.

Aber erzähl mir nur ruhig weiter über deine Sexualität. Du umgehst damit sehr elegant die Verantwortung, dein Leben endlich in den Griff zu kriegen.

Was ich dir noch sagen wollte...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt