Wir sind keine Freunde

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Lieber Herr G,

Was ich Ihnen noch sagen wollte: „Wir sind keine Freunde."

Ich glaube, ich habe in meiner beruflichen Laufbahn selten jemanden kennengelernt, der mich so schnell irritiert hat wie Sie. Seit unserem ersten Treffen schwanke ich zwischen genervt und amüsiert. Ich habe begonnen, in meiner Therapeutenstimme mit Ihnen zu reden und reguliere unsere Beziehung bewusst und aktiv. Etwas, was ich normalerweise nur bei Patienten oder Patienteneltern mache.

Dabei sind Sie kein Patient, kein Elternteil. Nein, Sie sind eine pädagogische Fachkraft, Sie haben studiert, Sie haben Erfahrung im professionellen Umgang mit Menschen. Davon merke ich zwar nichts, aber auf dem Papier haben Sie das alles. Wo ist diese Professionalität?

Die Hälfte der Zeit kommen Sie mir vor wie ein kleiner Hund, der schwanzwedelnd vor mir sitzt und gekrault werden will. Oder ein Leckerli will für seine Heldentaten. Mit einem Kind Uno zu spielen ist aber keine Heldentat. Das ist ihr Job.

Sie sollen eins unserer Kinder beim Übergang in die Schule begleiten. Weil dieser Junge Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation aufweist, sprich: Er versteht andere Menschen nicht und braucht jemanden, der für ihn übersetzt. Zwischen ihm und den anderen Kindern, zwischen ihm und den Lehrkräften.

Er braucht jemanden, der ihm die Regeln des sozialen Miteinanders erklärt. Regeln wie: Wir duzen keine fremden Erwachsenen. Wir halten Blickkontakt, starren aber niemanden an. Wir machen in professionellen Besprechungen nicht ständig flache Witze und schauen uns dann aufmerksamkeitsheischend um. Wir fragen bei Unklarheiten zur Schweigepflicht unsere Kollegen, vielleicht die Chefin, aber nicht die Eltern des Jungen, um den es geht.

Und ja, die letzten beiden Regeln sind für den Jungen noch nicht relevant. Aber für Sie.

Hören Sie auf mich zu duzen. Hören Sie auf mich anzustarren. Ihre Witze fände ich sogar privat nicht lustig, im beruflichen Setting sind sie super unangebracht. Klären Sie die rechtlichen Rahmenbedingungen wann anders.

Und bleiben Sie mir von der Pelle. Vollkommen unabhängig von sämtlichen Viren dieser Welt finde ich einen gewissen körperlichen Abstand unabdingbar. Müssen keine zwei Meter sein, aber so eine Armlänge „personal space" hat sich bewährt. Hält sich normalerweise jeder Mensch mehr oder weniger intuitiv dran. Sogar Ihr kleiner Schützling hat das gelernt. Vielleicht nehmen Sie ihn sich mal als Vorbild. Verkehrte Welt.

Nochmal zum mitschreiben: Wir arbeiten miteinander. Und auch das nur für eine kurze Zeit. Wir sind keine Freunde. Werden wir auch nie werden.

Was ich dir noch sagen wollte...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt