Willkommen auf der anderen Seite des Wurmlochs!

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Liebe Frau K, lieber Herr K,

Was ich Ihnen noch sagen wollte: „Willkommen auf der anderen Seite des Wurmlochs!"

Wir haben uns jetzt eine Weile nicht mehr gesehen, aber vielleicht erinnern Sie sich ja an mich.

Ich war die dumme Kuh, die ein gutes halbes Jahr alle 14 Tage mit Ihnen ein Elterngespräch geführt hat. Als Ihre Kinder bei uns in Behandlung waren, erst Ihr Sohn, dann Ihre Tochter.

Haben Sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, was Ihre beiden Kinder gemeinsam haben, dass sie beide eine teilstationäre psychiatrische Behandlung brauchten? - Wahrscheinlich nicht.

Jedenfalls war ich die dumme Kuh, die sich ein Bein dabei ausgerissen hat, Sie davon zu überzeugen, dass ich Ihnen nicht böse will.

Die es den letzten Nerv gekostet hat, mit Ihren Persönlichkeitsakzentuierungen umzugehen - eine nette Formulierung dafür, dass der eine ein narzisstischer, selbstverliebter Arsch und die andere eine histrionische, Co-abhängige Kuh ist. Und ich kann wirklich gut mit Narzissten und Histrionikern.

Jaja, ich weiß warum Sie so geworden sind wie Sie nun mal sind, es macht Sie nur einfach nicht sympathischer.

Ich war auch die dumme Kuh, die extra noch eine Kollegin mit in die Gespräche geholt hat in der Hoffnung, dass wir zu zweit weiter kommen. Das haben wir nach ein paar Gesprächen wieder gesteckt, weil wir nicht beide unsere Lebenszeit vergeuden wollten.

Weil es nämlich vollkommen egal war, was wir gesagt oder getan haben. SIE jedenfalls sind perfekt und machen nie etwas falsch. Und Sie werden regelrecht aggressiv, wenn man auch nur andeutet, es könnte vielleicht anders sein.

Dass Ihre Kinder seit Ewigkeiten nicht mehr in die Schule gingen und auch sonst ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen? - Die Schule ist schuld. Sie fanden die Lehrer schon immer inkompetent. Erkennen einfach nicht, dass Ihre Kinder eigentlich hochbegabt sind.

Dass Ihre Kinder angefangen haben Drogen zu nehmen und sich regelmäßig zu betrinken? - Die falschen Freunde. Dabei haben Sie ihnen doch schon seit Jahren gesagt, dass ihre Freunde nichts taugen. Sollen halt mal auf Sie hören.

Dass Ihre Kinder schon mehrfach versucht haben sich das Leben zu nehmen? - Die Welt, Corona, die Medien und speziell das Internet, die Mangas, you name it...

Es waren immer die anderen Schuld. Musste ja so sein, denn an Ihnen kann es unmöglich liegen. Sie sind bekanntermaßen perfekt. Und nicht verantwortlich dafür, dass es nicht läuft.

Blöd... Psychologisch gesehen haben wir nur dann die Kontrolle über unser Leben, wenn wir auch die Verantwortung dafür übernehmen. Ohne Verantwortung, keine Kontrolle. Wie denn auch?

Zu dem Zeitpunkt hatte ich mögliche Jugendhilfemaßnahmen schon etwa zehnmal angesprochen. Einmal haben Sie fast den Raum verlassen, so wütend sind Sie geworden über meine Frechheit, Ihnen zu unterstellen, Sie wären nicht perfekt. Oder könnten Hilfe brauchen.

So richtig gemerkt, dass Ihre Kinder aus dem Ruder laufen, haben Sie tatsächlich erst, als Ihr Sohn Ihnen seine Meinung gesagt hat. Mitten ins Gesicht. Wie erbärmlich er Sie findet. Wie lächerlich, wie dumm, wie inkompetent. Als er Ihnen erklärt hat, Sie sollen sich gefälligst nicht in sein Leben einmischen - er braucht Sie nicht, er ist immerhin perfekt.

Ein Teil von mir wertschätzte die Ironie dahinter. Dem anderen Teil taten Sie leid.

Danach habe ich mögliche Hilfen des Jugendamtes in jedem einzelnen verfickten Gespräch angesprochen. Monatelang. Ich wurde immer offener, immer direkter. Sie haben es sich angehört, fanden die Idee sogar irgendwann gut. Sie waren wirklich verzweifelt. Ihr Sohn hatte Sie gerade wieder ausgelacht.

Allerdings, und das musste ich natürlich verstehen (nicht), hatten Sie keine Zeit gehabt dort anzurufen. Außerdem ging es Ihnen so schlecht, Sie hatten Rücken. Und Migräne. Und einen eingewachsenen Zehennagel. Jedenfalls keine Zeit, um beim Jugendamt anzurufen.

Ich habe Ihnen die Nummer rausgesucht. Ich habe Ihnen angeboten, selbst beim Jugendamt anzurufen. Ich habe Ihnen angeboten, alles zu organisieren. Dafür hätten Sie mir nur die unterschriebene Schweigepflichtentbindung zurückgeben müssen. Dafür hatten Sie aber leider keine Zeit. Musste ich verstehen. Eine einzige verfickte Unterschrift...

Ich habe Sie noch nach Beendigung der Behandlung ihrer Kinder mehrmals angerufen, um nach dem Stand der Dinge zu fragen und mein Angebot zu wiederholen, mit dem Jugendamt Kontakt aufzunehmen. Erst haben Sie mich vertröstet. Dann haben Sie mich weggedrückt. Da habe ich aufgegeben...

Jetzt, Monate später, sitzen Sie bei meiner Chefin und beschweren sich darüber, dass Ihnen nie eine Kontaktaufnahme zum Jugendamt empfohlen wurde. Ein Skandal, eindeutiger Behandlungsfehler... Muss ja mein Fehler sein, denn Sie sind perfekt.

In Fällen wie Ihnen, wenn die Erinnerungen und Realitäten so weit auseinanderklaffen, komme ich immer wieder auf meine Wurmloch-Theorie zurück. Eine dermaßen verzerrte Wahrnehmung kann ich mir nämlich nicht mehr anders erklären.

Die berühmte Wurmloch -Theorie: Manchmal laufen wir, unbemerkt und unwissentlich, durch ein Wurmloch und landen in einem Paralleluniversum. Das ist unserem ursprünglichen sehr ähnlich, unterscheidet sich allerdings in kleinen Kleinigkeiten.

In Ihrem Paralleluniversum wurde Ihnen niemals das Jugendamt empfohlen. In meinem Universum habe ich mir vergeblich den Mund fusselig geredet. Zack, Wurmloch, und Peng, kollidieren zwei Wahrheiten, die einfach nicht miteinander vereinbar sind.

Diese Theorie finde ich jedenfalls viel schöner als die psychologisch basierte Erklärung, dass Sie mit Ihren Persönlichkeiten einfach nicht damit umgehen können eben nicht perfekt zu sein, und deshalb Ihr gesamtes Weltbild so verschoben haben, dass es wieder in Ihr Selbstbild passt. Beziehungsweise zu der Fassade Ihres Selbstbildes, die Sie verzweifelt aufrechterhalten müssen. Weil dahinter nichts mehr ist. Zumindest nichts schönes.

Letztendlich ist es egal, welche Theorie stimmt, weil wir uns so oder so in meinem Universum befinden. In diesem Universum habe ich alle Gespräche detailliert dokumentiert. Und die Kollegin als Zeugin. Und eine tolle Chefin, die mir absolut vertraut.

Von daher: Beschweren Sie sich ruhig. Und dann gehen Sie verdammt nochmal endlich zum Jugendamt.

Irgendwie tun Sie mir immernoch leid. Glücklich werden Sie so bestimmt nicht. Ihre Kinder leider auch nicht.

Was ich dir noch sagen wollte...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt