III

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"Du kennst sie?"
Verwirrt sah Greg mich an, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich starrte die ganze Zeit auf die Leiche, die ich heute morgen noch quicklebendig in der Schule gesehen hatte. Sie lag halb auf der Bank, und ihre Beine fielen entspannt über die Kante, während ihre Arme irgendwie verrenkt auf ihrem Oberkörper lagen.
"Sie ist ihre Kunstlehrerin.", erklärte John dem verwirrten Detectiv Inspector.
"Gewesen.", murmelte ich und löste mich aus meiner Starre. "Ich... ich glaube, ich muss ein bisschen Luft schnappen gehen. Macht schon mal ohne mich weiter."
Ohne auf eine Antwort zu warten, zwängte ich mich an John und Greg vorbei und rannte los. An Anderson und Donovan vorbei, die mir hinterher sahen und unter der Absperrung hindurch. Die Menschen wichen zur Seite und machten mir so den Weg frei, dass ich gar nicht erst stehen musste. Ich lief am Ufer der Themse entlang bis ich zur nächsten Brücke kam und diese betrat. Ich lief bis ungefähr zur Hälfte und lehnte mich dann schwer atmend gegen die Brüstung. Ich fühlte mich grauenhaft. Vor nicht einmal einer Stunde hatte ich mit Nicky noch darüber geredet, dass wir Schüler uns über Mrs Krusha geärgert hatten und ihr den Tod gewünscht. Doch jetzt, wo sie ganz offensichtlich tot war, fühlte ich mich grauenhaft deswegen. Vielleicht, weil ich sie erst einen Tag gekannt hatte. Vielleicht, weil es so unvermittelt geschehen war. Vielleicht aber auch, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass jetzt jeder Schüler meiner Schule ein potenzieller Mörder war.
Aber ein Schüler hätte sie niemals alleine in die Gondel bekommen und dort so töten können, dass es keine offensichtliche Todesursache gibt..., meldete sich meine innere Stimme zu Wort. Nein, da waren Profis am Werk. Ziemlich sicher.
"Hey... alles in Ordnung?", wurde ich plötzlich angesprochen und ruckartig wandte ich mich um. John stand neben mir und sah mich besorgt an. Ohne zu antworten trat ich auf ihn zu und umarmte ihn. Sofort schloss er seine Arme um mich und hielt mich fest. "Du trägst keine Schuld an ihrem Tod." flüsterte er und legte seinen Kopf gegen meinen.
"Ich weiß, aber ich fühle mich trotzdem schlecht.", wisperte ich und verdrängte die Tränen, die mir in die Augen traten. "Ich habe ihr heute Morgen noch den Tod gewünscht."
"Lerne daraus.", sagte er ruhig und verwirrt sah ich ihn an. "Wünsche niemandem den Tod. Auch nicht, wenn alle anderen das machen.", er sah über mich hinweg ins Leere und ich spürte, dass er jetzt eine Anekdote aus seinem Leben erzählen würde. "Damals, in meiner Einheit, hatten wir einen Angeber. Er hat immer damit geprahlt, dass er schon so viele Dinge er- und vor allem überlebt hatte. Eines Tages hat er mich dann beleidigt und gemeint, ein Grünschnabel wie ich sollte nicht in seiner Einheit dienen. Ich habe ihm gesagt, er soll zur Hölle fahren. Drei Stunden später geriet eine andere Einheit von uns unter Beschuss und wir mussten nachrücken. Carlson wurde dabei erschossen. Ganz unehrenhaft in den Rücken. Eines Soldaten nicht würdig. Ich fühlte mich schrecklich deswegen. Teilweise auch schuldig. Aber weder du noch ich sind schuldig. Menschen sterben, ob wir ihnen den Tod wünschen, oder es nicht tun."
"Warum weißt du immer, welche Geschichte du mir erzählen musst, damit es mir besser geht?", fragte ich und drückte ihn noch einmal fest, ehe ich ihn los ließ und wir wieder zum London Eye zurück schlenderten. Als wir zurückkamen hörte Greg sich gerade eine Vermutung von Sherlock an, die dieser allerdings abrupt beendete, als John und ich in die Gondel traten.
"Lili! Du kanntest die Birne ja. Irgendwelche Vermutungen, wer sie umgebracht haben könnte?"
Ich schüttelte den Kopf. "Du meinst abgesehen von den zweitausend Schülern meiner Schule? Nein, ich kannte sie immerhin erst seit heute."
"Das ist keine Ausrede. Überleg mal, dass ich Menschen mit einem Blick so gut wie vollständig lesen kann."
"Ich bin aber nicht du!", gab ich trotzig zurück und spürte, wie John beruhigend meine Schulter drückte.
"Das wollte ich damit auch nicht sagen. Was ich meinte war, dass du lernen musst, auf Details zu achten.", widersprach er und deutete auf die Leiche. "Was fällt dir als erstes auf, wenn du sie siehst?"
"Du meinst, die Tatsache ignorierend, dass sie meine Kunstlehrerin ist- war?"
"Genau. Schau nur auf das offensichtliche."
Ich blickte Mrs Krusha an. Wie bereits erwähnt lag sie halb auf der Bank und ihre Arme lagen halb auf ihrem Oberkörper. Bei näherer Betrachtung allerdings, konnte man sehen, dass sie ein wenig nach links gerollt dalag. Ihr Kopf lag auch angewinkelt vor und insgesamt sah ihre Lage nicht sonderlich bequem aus. Ihre rostrot gefärbten, schulterlangen Haare fielen locker nach hinten, ihre Augen waren aufgerissen, sodass man ihre blauen Augen sehen konnte. Ihre orange-braune Bluse war bis zum vorletzten Knopf zugeknöpft - wie bereits heute morgen -, ihr schwarzes Jackett hing schlaff an ihrer Seite hinab und ihr enger schwarzer Rock saß makellos. Ihre Beine, die über die Kante hingen, steckten in einer gold-braunen Strumpfhose und ihre Füße standen in schwarzen Stöckelschuhen auf dem Boden.
"Ihre Füße berühren den Boden, das heißt, dass sie gesessen haben muss, als sie gestorben ist.", sagte ich dann vorsichtig.
"Sehr gut, weiter."
"Ihre Augen sind aufgerissen, dass bedeutet, sie hat sich entweder erschrocken oder schmerzen."
"Schau ihre Hände an, dann kannst du von dort etwas auf ihr letztes Gefühl ableiten.", riet Sherlock mir und ich kniete mich neben die Bank, sodass ich ihre rechte Hand inspizieren konnte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Greg und John die Gondel wieder verließen, doch ich ließ mich nicht ablenken.
"Sie sind zu Fäusten geballt. Angst oder Schmerzen."
"Weiter, achte auf die Füße."
Ich blickte ihre Beine hinab und zu den Füßen, so wie Sherlock es mir gesagt hatte.
"Nach innen gekehrt, eine Krampfhaltung. Was auch die seltsame Haltung des Kopfes erklären würde. Sie hatte Schmerzen vor ihrem Tod!"
"Absolut korrekt. Da es keine offensichtlichen Verletzungen gibt, ist davon auszugehen, dass sie vergiftet wurde. Jetzt sieh dir ihren Schmuck und die Kleidung an."
"Die Kleidung ist ohne Falten, völlig makellos. Sie trägt Ohrringe, eine Kette und keinen Ehering. Dafür aber eine Brille ohne Ramen."
"Ich habe nicht gefragt, was du siehst. Du sollst mir anhand dieser Sachen etwas über sie erzählen."
Ich dachte einen Moment nach.
"Darf ich mir die Kette ansehen?"
"Ja, darfst du. Guter Ansatz.", lobte Sherlock und ich spürte, wie Stolz mich erfüllte. Doch ich ließ mir keine Zeit für Erfolge sondern zog die Kette aus ihrer Bluse. Dabei fühlte ich mich zwar etwas schlecht, doch ich versuchte auszublenden, dass ich hier meine Kunstlehrerin vor mir hatte.
Der Kettenanhänger war ein kleiner Bilderrahmen, der sich aufklappen ließ. Darinne waren zwei Bilder. Eines in farbig, welches zwei kleine Kinder zeigte und eines in schwarz weiß, welches einen jungen Mann mit Schnäuzer zeigte, der eine Offiziers Uniform anhatte.
"Sie hat zwei Kinder und... ist verwitwet?", riet ich.
"Worauf stützt du, dass sie verwitwet ist?", fragte Sherlock und ich sah ihn an.
"Sie trägt keinen Ehering, aber ein Portrait eines Mannes im Amulett."
"Warum kann es nicht ihr Vater oder Sohn sein?"
"Ihr Sohn kann es nicht sein, weil das Bild sonst auch bunt wäre. Dass es ihr Vater ist, kann ich nicht ausschließen, halte ich aber für unwahrscheinlich."
Sherlock reichte mir seine Lupe. "Sieh dir die Uniform an."
Ich tat, was er mir sagte und blickte durch die Lupe auf die Uniform. Irgendetwas an ihr störte mich. Ich kam nur nicht drauf was. Ich suchte in meinem Gedächtnis nach einem Bild einer Uniform, mit der ich diese Uniform vergleichen könnte. Ich wollte schon aufgeben, da fiel mir eines der Bilder ein, die ich von John auf meinem Handy hatte. Es zeigte ihn, am Tag seiner Abreise nach Afghanistan, eingereiht mit einem Haufen anderer Soldaten. Und ihm gegenüber stand ein Offizier. Triumphierend rief ich mir die Uniform dieses Offiziers ins Gedächtnis und verglich die beiden miteinander.
"Es kann nicht der Vater sein, weil das bereits die neue Uniform der Unteroffiziere ist.", sagte ich dann und blickte Sherlock aufgeregt an, der zufrieden nickte.
"Sehr gut. Wirklich. Sehr gut gemacht. Zwar hast du einige Sachen übersehen, beispielsweise, wo er gedient hat, aber trotzdem; für den Anfang sehr gut."
Ich spürte, wie vor Stolz meine Brust anschwoll und erhob mich wieder.
"Danke, Sherlock."
"Ja, schon gut. Schau dir noch einmal die Umgebung an. Fällt dir etwas auf?"
Ich blickte mich einen Moment um.
"Die Bank ist nass."
"Das heißt?"
"Naja, weil es hier nicht rein regnen kann... muss der Mörder die Bank nass gemacht haben."
"Richtig. Und warum sollte das jemand tun?"
Ich dachte nach. "Ich habe absolut keine Ahnung..."
"Um sicher zu gehen, dass das Opfer sich dorthin setzt, wo es sich setzen soll. Denn wenn du alle Details aufgenommen hättest, dann hättest du bemerkt, dass ihr Rock trocken ist. Das heißt, dort wo sie saß war es nicht nass. Jetzt komm. Wir wollen den Mann befragen, der die Leiche gefunden hat. Und vergiss nicht, auf alle Details zu achten. Ich erwarte von dir, dass du mir später etwas über ihn erzählen kannst."

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt