XXII

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"Setz dich doch, bitte.", forderte Tessa Nikleding mich auf.
Ich war noch immer völlig perplex. Ich hatte mit vielen Menschen gerechnet, und alle hätten sie mich weniger überrascht, als sie. Eine Frau, die ich auf der Zugfahrt von Northampton nach London kennengelernt hatte. Eine Frau, die ich nach fünf Minuten wieder vergessen hatte. Und doch, überraschte es mich, sie zu sehen. Es überraschte mich, weil ich es nicht erwartet hatte.
Dennoch kam ich ihrer Aufforderung nach, ehe sie sie wiederholen musste.
"Was tun Sie hier?", fragte ich, da sie keine Anstalten machte, etwas zu sagen.
"Ich dachte, wir hätten damals das "Sie", schon abgelegt.", es klang fast schon etwas bedauernd. Sie trug ihre roten Haare in einem eng gebunden Zopf, ihre Beine steckten wieder in einer schwarzen Lederhose; wie bei unserem ersten Treffen. Doch dieses Mal trug sie eine weiße Bluse. Ihre Lippen waren blutrot gefärbt, was mich einerseits verängstigte, andererseits fand ich es ziemlich überschwänglich.
"Haben wir das denn?", fragte ich zurück.
"Du erinnerst dich also noch an mich?", wich sie meiner Frage geschickt aus.
Ich nickte. "Natürlich. Tessa Nikleding. Sie fragten mich damals, ob ich ein Praktikum machen würde."
"Wie du dir vermutlich denken kannst, wusste ich damals, dass du kein Praktikum machen würdest.", grinste sie. "Für so schlau halte ich dich doch, auch wenn du jetzt gerade nicht sonderlich intelligent scheinst."
Ich tat den Kommentar mit einem Kopfnicken ab. Wenn sie versuchte mich zu provozieren, dann war sie so aber auf dem Holzweg. Sherlock Holmes höchst persönlich hatte mir gesagt, ich wäre nicht dumm. Mehr Kompliment war gar nicht möglich. Und das konnte mir auch keiner mehr ausreden.
"Was tun Sie hier?", fragte ich, auch wenn mir die Antwort eigentlich schon bewusst war. Doch sie antwortete nicht. "Okay, etwas leichteres: Ist Nicky weiterhin in Gefahr?"
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. "Nein, die ist völlig uninteressant für uns."
"Also haben sich die Pläne geändert?"
"Offenkundig."
Ich dachte einen Moment nach, ordnete meine Gedanken und verarbeitete, dass Nicky außer Gefahr war. Dann blickte ich wieder auf. "Also noch einmal. Was tun Sie hier?"
"Ich wollte nur ein wenig mit dir plauschen.", sie lächelte und man könnte fast meinen, dass sie es ernst meinte. "Weißt du, weil du in den nächsten zwei Wochen sterben wirst."
"Und wie kommen Sie darauf, dass ich sterben werde?", fragte ich, und auch wenn ich versuchte, Ruhe zu bewahren, aber mein Puls stieg doch mit einem Mal ziemlich rasant an.
"Weil ich dafür sorgen werde."
"Und warum sollten Sie sowas tun?"
"Denk nach. Du wohnst hier bei Sherlock Holmes. Hat er dir denn gar nichts beigebracht?"
"Doch, nur wäre es schön, bestätigt zu werden.", eigentlich versuchte ich nur, Zeit zu schinden. Ich bezweifelte, dass sie mich hier umbringen würde. Aber vielleicht kamen Sherlock und John demnächst, und könnten... ja, was könnten sie tun? Nicht viel mehr als ich, vermutlich.
"Du bist Moriartys Netzwerk ein Dorn im Auge. Von Anfang an gewesen. Und wir müssen dich beseitigen.", sie lächelte, als würde sie mir mitteilen, dass wir am Wochenende einen Tee zusammen trinken könnten. "Da mein Vorgänger zu unfähig war, das zu tun, habe ich seine Aufgabe übernommen."
Ich nickte. "Also wollen Sie eigentlich nur, die Ehre des Netzwerkes wieder herstellen?", fragte ich. "Ich meine, es ist verständlich. Sherlock hat Moriarty einen ziemlich unschönen Abgang beschert. Und auch, wenn er danach noch für einige Probleme gesorgt hat, aber... trotzdem muss Sie das gedemütigt haben."
"Und selbst wenn.", Tessa lachte abwertend. "Nein... es ist etwas persönliches."
"Und... warum genau?"
Sie wollte gerade antworten, doch da wurde unten die Türe aufgeschlossen und man konnte John mit Sherlock diskutieren hören. Jetzt verfluchte ich doch, dass sie hier aufgetaucht waren. Hätten sie nicht wenigstens noch fünf Minuten warten können? Dann hätte ich vielleicht noch erfahren was...
"Du wirst noch vor deinem Tod erfahren, warum es persönlich ist. Aber soviel sage ich dir: Nur weil du eine neue Identität hast, ist deine Vergangenheit keine andere.", sagte sie, erhob sich und ehe ich mich versah, hatte sie ein Fenster geöffnet, war hinaus geklettert und die Fassade hinab. Ich sah ihre Gestalt in der Dunkelheit verschwinden. Als John und Sherlock herein kamen, spürten sie sofort, dass etwas nicht stimmte.
"Was ist los?", fragte mein Bruder besorgt und Sherlock deduzierte die Wohnung.
Ich blinzelte den Blonden mit Tränen in den Augen an. "Ich werde in den nächsten zwei Wochen sterben. Das ist los."

Fortsetzung folgt...

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt