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"Und, was machen wir jetzt?", fragte ich, als wir wenig später an der Straße standen und darauf warteten, dass ein Taxi vorbei kam.
"Nach hause. Ich muss in meinen Mind Palace.", gab Sherlock knapp zurück und ich nickte bedächtig.
"Haben wir eigentlich überhaupt schon Verdächtige?", fragte ich nach einer Weile vorsichtig und der Consulting Detectiv seufzte genervt.
"Nein, haben wir nicht. Sonst müsste ich nicht in meinen Mind Palace."
"Oh, okay. Verstehe.", sagte ich kleinlaut und John legte einen Arm um meine Schultern.
"Mach dir nichts draus.", sagte er. "Sherlock wird immer so grob, wenn er nicht weiter weiß."
"Ich weiß weiter!", protestierte dieser sofort und sah John finster an. Da hielt endlich ein Taxi vor uns, doch Sherlock rief: "Nehmt das nächste. Eure Unterhaltungen stören mich!"
Dann stieg er ein und ließ meinen Bruder und mich allein vor dem Krankenhaus stehen.
"Und ich dachte, wir hätten das endlich geklärt...", murmelte John leicht säuerlich. Ich wollte ihm gerade antworten, dass das bestimmt nur daran lag, dass Sherlocks Ego angeknackst war, da hielt ein weiteres Taxi vor uns und schnell stiegen wir ein und fuhren Sherlock hinterher.

Gut zwanzig Minuten später purzelte ich in den Hauseingang der 221B Baker Street.
Und ich purzelte im wahrsten Sinne des Wortes. Denn vor der Türe lag ein Fußabtreter, der mir regelmäßig zum Verhängnis wurde, da ich darüber stolperte.
"Alles in Ordnung?", fragte John belustigt, als ich mich vom Boden aufrappelte.
"Ja, ich wollte nur... den Boden umarmen. Darf man doch mal machen. Der wird immer mit Füßen getreten, da darf man ihm doch einmal ein bisschen Liebe schenken.", erklärte ich ernsthaft, hängte meine Jacke auf und grinste ihn an.
"Ah ja. Klar. Liebe für den Boden, logisch.", grinste John zurück und folgte mir dann nach oben, wo ich meinen Rucksack in den Flur pfefferte und wir leise ins Wohnzimmer gingen. Sherlock saß auf seinem Sessel und hatte die Hände vor seinem Kinn gefaltet, wie ich es schon des Öfteren hatte beobachten dürfen. Er nannte es "seinen Mind Palace", was genau das allerdings war, hatte er mir bisher noch nicht erklären wollen.
"Ich glaube, ich gehe Hausaufgaben machen.", sagte ich leise und John nickte.
"Tu das. Ich... werde an meinem Blog schreiben."
Mit diesen Worten ging ich in den Flur, hob meinen Rucksack wieder hoch und ging rauf.
Mein Zimmer hatte ich inzwischen vollständig eingerichtet; wenn man in das Zimmer herein kam, dann stand rechts von der Türe ein weißer Kleiderständer mit all meinen Klamotten. Daneben an der Wand, unter der Schräge, stand eine Kommode, in der ich Unterwäsche, die ganzen Notizhefte und andere Kleinigkeiten aufbewahrte. Darauf hatte ich eine Stereoanlage platziert, die sich sogar mit meinem Handy koppeln ließ, was ein absoluter Luxus war. Neben der Kommode stand mein Bett, vor welchem ein flauschiger Teppich lag. Unter dem Fenster, wieder neben meinem Bett, stand dann mein Schreibtisch. Die Wände hatte ich tatsächlich pastell-gelb und weiß gestrichen, allerdings war die Wand mit der Türe zum Badezimmer von Album Covern bedeckt, die John und ich im Möbelhaus zu einem Schnäppchenpreis bekommen hatten. Außerdem hingen dort von der Decke noch zwei Zimmerpflanzen, die ich nach einigem Überlegen Karl und Karlchen genannt hatte. Außerdem hing an der Wand neben meinem Schreibtisch noch eine große Pride-Flag.
Seufzend schmiss ich meinen Rucksack neben mein Bett und stapfte zur Stereoanlage, welche ich erst einmal mit meinem Handy koppelte. Als dann in einer angemessenen Lautstärke AC/DC lief, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, holte meine Schulsachen aus dem Rucksack und begann eine Analyse über Shakespeares Hamlet zu schreiben. Ich war zwar seit vier Jahren das erste Mal wieder in der Schule, aber dank der Förderung, die mir zur Verfügung gestellt wurde, holte ich den Rest der Klasse doch ziemlich gut ein. In den zwei Tagen, die ich bisher dort gewesen war, hatte ich jedes Fach schon einmal gehabt und konnte mir so ein minimales Bild meiner Talente bilden. In Mathe hatte ich wohl die mit Abstand größten Probleme, aber dafür lagen die anderen Naturwissenschaften und Sport mir relativ gut. Englisch lag wohl im Mittelfeld meiner Talente, allerdings waren Text Analysen wohl so ziemlich das langweiligste Thema, was man sich vorstellen konnte.
Ich wollte gerade meine Englisch Sachen wegräumen und mich an Chemie setzen, als die Türe meines Zimmers mit einem Ohrenbetäubenden Wums! aufflog. Erschrocken wirbelte ich auf meinem Stuhl herum und erblickte Sherlock, der mit leuchtenden Augen im Türrahmen stand.
"Wir müssen los, wir haben endlich einen Verdächtigen!", rief er und ehe ich fragen konnte, wer, warum, oder wie, da war er auch schon wieder die Treppe runter gestürmt. Mit einem Schulterzucken schnappte ich mir mein Handy, machte die Musik aus und folgte dem Consulting Detectiv nach unten, wo auch bereits John abfahrbereit neben der Türe stand.
"Okay, und gleich erklärst du uns aber erst einmal, wie du auf wen auch immer gekommen bist!", sagte ich, als Sherlock förmlich die Treppen hinunter flog und zur Straße eilte, wo er sogleich ein Taxi anhielt und einstieg. John und ich beeilten uns, ihm zu folgen und stiegen noch schnell ein.

"Also.", hob Sherlock an, als er dem Taxifahrer unser Ziel, das London Eye, genannt hatte. Draußen war es mittlerweile stockfinster, immerhin war bereits 22 Uhr durch. Ich hatte über das Hausaufgaben machen überhaupt nicht mitbekommen, wie schnell die Zeit eigentlich vergangen war. "Ich bin vorhin in meinem Mind Palace noch einmal die gesamte Beweislage durchgegangen. Wir haben uns bisher nur auf die Verbindung zu Moriartys Netzwerk konzentriert. Da wir allerdings keine Ahnung haben, wer dort arbeitet, haben wir logischerweise auch noch keine Verdächtigen. Also habe ich den Schwerpunkt verlagert und begonnen, in eine andere Richtung zu denken.", er grinste und ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie John zufrieden lächelte. Diese Art von Blicken waren mir in den letzten Tagen immer häufiger bei John aufgefallen. Diese kleinen Blicke, die puren Stolz und tiefe Verbundenheit ausdrückten, wenn er Sherlock etwas erzählen hörte, worauf dieser stolz war. "Und zwar: Wie auch immer geartet, aber die Birne wurde vergiftet. Und das konnte erst in der Gondel passiert sein. Denn VX reagiert innerhalb weniger Minuten. Wenn sie vorher vergiftet worden wäre, hätte sie es gar nicht erst in die Gondel geschafft. Während ich also überlegt habe, wie viele Minuten das Gift in ihrem Körper gewesen sein musste, ist mir eingefallen, dass es in den Gondeln Videokameras gibt. Ich bin mir sicher, dort können wir etwas spannendes drauf sehen."

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt