XXI

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"Du erinnerst dich, an vergangenen Freitag?"
"Wie könnte ich nicht? Es ist doch erst drei Tage her.", antwortete Nicky lächelnd.
"Ich frag ja nur.", verteidigte ich mich, und lehnte mich in Johns Sessel zurück. "Da wurde ich ja von Sherlock abgeholt, der erklärte, dass Lestrade angerufen hätte..."
"Ja, genau. Und dann seid ihr ziemlich sofort abgedampft."
"Richtig. Denn Lestrade ist Detectiv Inspector bei Scotland Yard und der Kontaktmann von Sherlock. Er verschafft ihm immer den Zugang zu Fällen."
"Das heißt...?", Nicky wagte nicht, die Frage auszusprechen. Trotzdem wusste ich, was sie meinte, und nickte.
"Wir fuhren zum London Eye, dem Tatort. Ich dachte mir nichts böses, doch als ich in diese Gondel rein gehe... da liegt dort Mrs Krusha."
Scharf sog Nicky die Luft an. Ihre Augen waren geweitet und sie hielt einen Moment den Atem an, ehe sie lautstark weiter atmete.
"Ich konnte mir das erst nicht ansehen...", fuhr ich ehrlich fort. "Und musste ein bisschen Abstand halten, aber dann kam ich zurück und hab mir alles genau angeguckt. Immerhin wollte ich Sherlock bei den Ermittlungen helfen.", ich übersprang einige unwichtige Details, wie die Tatsache, dass John mich erst hatte holen müssen, oder dass ich Mrs Krushas Leiche noch hatte deduzieren dürfen.
"Und... was habt ihr herausgefunden? Wisst ihr, wer der Mörder ist?"
"Ja, tatsächlich. Aber da steckt leider noch sehr viel mehr hinter... und ich weiß nicht, wie viel ich davon erzählen darf...", gab ich aufrichtig zu.
"Ach komm schon.", bettelte Nicky. "Wenn du mir ein bisschen über die Hintergründe erzählst - das erfährt doch keiner."
"Ha, du kennst Sherlock aber nicht.", ich grinste. "Der findet alles heraus."
"Kann er wirklich so gut deduzieren, wie Doktor Watson in seinem Blog schreibt?"
"Ohh, ja. Und noch viel besser.", ich seufzte. "Glaub mir Nicky, ich würde dir wirklich gerne mehr erzählen. Aber ich bezweifle, dass die Regierung damit so glücklich wäre..."
"Was hat die Regierung denn damit zutun?", fragte sie verwirrt und ich musste wieder grinsen.
"Nun... sagen wir so: Mycroft Holmes ist dort sehr... gefragt. Und da er der Bruder von Sherlock ist... kannst du dir vorstellen, dass er ab und zu hier vorbeischneit."
"Du meinst doch nicht etwa den Mycroft Holmes?"
"Wie viele Mycroft Holmes'se kennst du denn?", fragte ich zurück.
"Einen...", gab sie zu. "Ich habe von ihm in Doktor Watsons Blog gelesen. Sherlock nennt ihn "die britische Regierung". Stimmt das wirklich? Ich dachte, er würde übertreiben."
"Ich nehme an, das ist der Grund, warum John so unzensiert schreibt. Weil die Leute denken, er würde übertreiben. Aber nein, das Meiste wird wohl wahr sein. Mycroft, zum Beispiel, hat tatsächlich ein sehr hohes Amt.", ich wollte mich nicht weiter festlegen, da ich auch hier wieder nicht wusste, wie viel ich verraten durfte, ehe es gefährlich wurde. "Aber genug von diesen düsteren Themen. Erzähl mir etwas von deinem letzten Geburtstag.", forderte ich sie auf und scheinbar traf ich damit einen guten Punkt, um eine angeregte Unterhaltung zu entfachen. Denn auf einmal begann Nicky zu erzählen und erzählen, von Geburtstagen die sie hatte, die sie erlebt hatte, von denen sie gehört hatte, und ich hörte ihr sehr gerne zu. Es war sehr lustig und die Zeit verging wie im Fluge. Ich bemerkte nicht, dass es draußen dunkel geworden war, bis mein Margen lautstark protestierte. Nicky unterbrach sich, sah mich einen Moment an, dann brachen wir in schallendes Gelächter aus.
"Ich denke, das war die subtile Aufforderung, etwas zu essen.", grinste ich und Nicky stimmte mir zu.
"Lass uns zusammen etwas kochen.", schlug sie vor. "Das ist bestimmt lustig."
"Ich bin dabei.", sagte ich sofort und erhob mich aus Johns Sessel. Wir gingen in die Küche und sahen alles durch, was wir da hatten. Ich wollte gerade in die Tiefkühltruhe gucken, als es klingelte. Verwirrt sah ich auf.
"Sind das dein Bruder und Sherlock?", fragte Nicky, doch ich schüttelte den Kopf.
"Die würden nicht klingeln...", in meinem Kopf läuteten alle Alarmglocken, als ich hörte, wie Mrs Hudson die Türe öffnete und jemanden fremdes begrüßte. "Lass uns rauf gehen.", sagte ich, und schob Nicky zur Türe hinaus. Sie protestierte leise, doch ich schob sie die Treppe rauf und in mein Zimmer, wo ich sogleich die Türe hinter uns zu machte und einen Moment fieberhaft nachdachte. Möglicherweise machte ich bloß unnötig Panik, aber ich wollte kein Risiko eingehen.
"Willst du mir jetzt bitte sagen, was los ist!", forderte Nicky mich wütend auf und ich schluckte.
"Ich erkläre es dir. Versprochen. Aber nicht jetzt. Vertrau mir, bitte. Bleib hier und gib keinen Mucks von dir. Schließ die Türe hinter mir ab und öffne sie erst wieder, wenn ich vier Mal schnell hintereinander klopfe, okay? Es ist wirklich wichtig."
Ich wusste nicht, ob sie mir wirklich vertraute, oder ob ich einfach nur sehr überzeugend war, aber sie nickte. Ich verließ das Zimmer wieder, und sie schloss hinter mir ab. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch lauschte ich, doch ich hörte keine Stimmen. Nervös schlich ich nach unten und stand mit klopfendem Herzen vor der geschlossenen Wohnzimmertüre. Selten hatte ich mir so sehr gewünscht, dass irgendwer auf die Idee käme, mich zu besuchen, wie jetzt. Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte, aber ich legte meine Hand auf die Klinke und drückte sie runter. Ich betrat das Zimmer und sah eine Gestalt in Sherlocks Sessel sitzen.
"Hallo, Lilith.", sagte die Person, und mich durchfuhr ein Schauer. Ich kannte die Person.
Es war Tessa Nikleding.

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt