IX

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Eine dreiviertel Stunde lang nahm Sherlock mich völlig auseinander.
Er fragte mich alles mögliche über Montegiu aus, über vorbeigehende Restaurant Besucher und gab mir klar zu verstehen, dass ich definitiv mehr auf Details achten sollte und im Grunde genommen ein inkompetentes Wesen war. Allerdings gab er mir trotzdem Tipps, wie ich manche Details deuten könnte oder von der einen auf die andere Sache schließen konnte. So sagte eine Eheringlose Hand nicht zwangsläufig aus, dass jemand nicht verheiratet war. Er riet mir, auf das Gesamtbild zu achten. Und - er sagte, dass wäre der schlimmste Fehler den man machen könnte - niemals nur einzelne Sachen beachten, und andere ignorieren, nur weil sie nicht ganz ins Bild passten.
"Sherlock, ich glaube mein Kopf platzt gleich.", stöhnte ich, als Sherlock mich aufforderte, den X-ten Mann zu deduzieren, der an uns vorbei ging.
"Ich denke auch, es reicht erst einmal.", mischte John sich ein, und legte seine auf Sherlocks Hand, was mich natürlich zwangsläufig grinsen ließ, was mein Bruder sah. "Obwohl, wenn ich es mir recht überlegte..."
"Nein!", rief ich und lachte panisch auf. "Ich habe doch gar nichts gesagt!"
Teuflisch grinste John mich an und leckte sich über seine Unterlippe, was er irgendwie immer tat.
"Komm, wir müssen ohnehin gleich zum Krankenhaus.", rettete er mich schließlich doch noch und erleichtert atmete ich aus, als Sherlock nickte.
"Aber glaub nicht, du kommst um diese Lektionen herum.", warnte Sherlock mich, während er aus seiner Brieftasche dreißig Pfund auf den Tisch legte und seinen Mantel wieder anzog. "Schließlich habe ich mit deiner Mutter abgemacht, dass ich dir was beibringen muss, wenn du schon mit zu den Tatorten kommst."
So wie er das "Mutter" betonte, wurde ich ein wenig skeptisch. Allerdings war mein Hirn gerade so Matsche - ich würde den Wink mit dem Zaunpfahl wahrscheinlich nicht einmal verstehen, wenn er mich damit erschlagen würde. Später würde er es mir erklären müssen. Allerdings wäre es hier in der Öffentlichkeit doch wesentlich zu riskant, danach zu fragen. Deswegen nickte ich einfach nur, schnappte mir meinen Schulrucksack und folgte ihm und John nach draußen.
Gut zehn Minuten später erreichten wir wieder das St Barts. Damit waren wir zwar knapp fünf Minuten zu früh, allerdings trafen wir trotzdem bereits auf Greg, der mit einer der Damen am Empfang diskutierte.
"...bin Detectiv Inspector und nur weil ich meine Marke vergessen habe, lassen Sie mich jetzt nicht zu einer Obduktion?!", rief er gerade frustriert, als Sherlock, John und ich hereinkamen. Sofort beschleunigten wir unseren Schritt und eilten an den verwirrten Menschen vorbei nach vorne.
"Ähm, Greg?", fragte ich vorsichtig, da der Detectiv Inspector ziemlich laut herum schrie. Er drehte sich um und deutete dann auf Sherlock.
"Sehen Sie- Sehen Sie diesen Mann?"
"Ja, Sir. Das ist Sherlock Holmes, Sir.", sagte die etwas verstörte Dame hinter dem Empfang.
"Aha! Ihn kennen Sie also. Sherlock, würden Sie ihr bitte bestätigen, dass ich Detectiv Inspector bin? Diese junge Dame will es mir nicht glauben!"
"Ma'am, wir können uns alle drei dafür verbürgen, dass es sich hierbei um Detectiv Inspector Greg Lestrade handelt.", sagte Sherlock ruhig und ich stellte mich unauffällig neben den angespannten Greg, der vor lauter Wut und Empörung eine pulsierende Ader am Hals hatte.
"Alles in Ordnung?", flüsterte ich und sah ihn besorgt von der Seite an.
"Du meinst, wenn man davon absieht, dass ich seit zehn Jahren mit diesem Krankenhaus zusammenarbeite und von den Angestellten nicht reingelassen werde?", fragte er zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Mitleidig lehnte ich meinen Kopf gegen seine Schulter und schaute Sherlock und John dabei zu, wie sie der Frau vom Empfang erklärten, dass wir Greg dringend für unsere Ermittlungen brauchten. Oder besser, John erklärte das so und Sherlock nickte ab und zu, um die Aussage zu unterstützen. Schlussendlich rief die Frau bei Molly an, die rauf kam und auch bestätigte, dass Greg zur Polizei gehörte.
"Amanda! Natürlich ist das Greg! Oh mein Gott, Greg. Es tut mir soo unendlich leid!", sagte sie und umarmte den Detectiv Inspector, der etwas verwirrt drein blickte und unbeholfen ihren Rücken tätschelte.
"Ja, ich denke, es geht schon wieder...", murmelte er und Sherlock klatschte in die Hände.
"Gut, jetzt wo wir geklärt haben, dass Gert tatsächlich Gert ist, können wir uns ja endlich die Leiche ansehen.", sagte er und die Frau hinterm Empfang wollte schon wieder etwas sagen, doch ehe das passieren konnte, schob ich Greg und Molly vorwärts Richtung Aufzug, und auch Sherlock und John gingen los.
"Was für ein Aufstand.", seufzte ich, als wir uns alle in den Aufzug gezwängt hatten.
"Was ist eigentlich genau passiert?", fragte Molly und lachte leicht.
"Diese Amanda", Greg spuckte den Namen förmlich aus. "wollt mir nicht glauben, dass ich Detectiv Inspector Lestrade bin. Und weil ich natürlich ausgerechnet heute meine Marke zuhause vergessen habe, konnte ich es auch nicht beweisen."
Die Türe ging vor uns auf und sofort stieg ich aus. Sherlock folgte und dahinter John. Molly und Greg kamen ebenfalls heraus und sofort gingen wir zum Obduktionstisch, auf dem, unter einer Plane, der tote Körper von Mrs Krusha lag. Ich würde nicht sagen, dass ich noch traurig wegen ihres Todes war, aber an den Gedanken gewöhnt hatte ich mich auch noch nicht. John schien das zu merken, denn bevor Molly die Plane über ihrem Gesicht lüftete trat er zu mir und murmelte:
"Wenn du noch einen Moment brauchst, dann gehe ich mit dir raus."
Ich schüttelte den Kopf und schluckte all die persönlichen Empfindlichkeiten runter. Davon konnte ich mir auch kein Eis kaufen. Molly lüftete die Plane und legte Mrs Krushas, inzwischen wesentlich entspannteres, Gesicht frei.
"Ich konnte die Todesursache feststellen. Sie wurde mit VX getötet. Allerdings kann ich nicht sagen, wie ihr das Zeug verabreicht wurde. Über die Nahrung kann ich ausschließen, sonst hätte sie sich übergeben. Es könnte über die Haut gewesen sein, allerdings hätte sie dann irgendwelche Rötungen haben müssen, was auch nicht der Fall ist. Also bleibt eigentlich nur noch eine Injektion übrig."
"Was ist VX?", fragte ich und sah zwischen Molly und Sherlock hin und her. Ich hielt die beiden am ehesten für fähig, mir zu erklären, wobei es sich darum handelte.
"VX, oder eigentlich O-Ethyl-S-2-diisopropylaminoethylmethylphosphonothiolat, ist ein Nervengift der V-Klasse. Es ist einer der verbreitetsten Vertreter dieser Klasse, und ein Kampfstoff. Es ist eine farblose und leicht faulig stinkende Flüssigkeit.", erklärte Sherlock. "Die Reaktionen des Körpers fallen unterschiedlich aus, zwischen Schweißausbrüchen, Erbrechen und Erblinden ist alles möglich. Aber es endet immer in einem schmerzhaften Tod."
"Ach, so ein nettes Gesöff...", murmelte ich und Sherlock bedeutete Molly, fortzufahren.
"Damit lässt sich allerdings auch nicht viel über den Mörder sagen, weil man VX relativ einfach herstellen kann."
"Das ist mir bewusst. Kannst du noch etwas sagen, was ich noch nicht weiß?", sagte Sherlock scharf, was ihm einen bösen Blick von Greg und einen Stoß in die Rippen von John einbrachte.
"Es waren ungefähr 0,8 mg VX, die sie getötet haben."
"Gut. Danke, Molly. Find heraus, wie ihr das Gift injiziert wurde.", rief Sherlock, wandte sich um und stieg in den Aufzug. Schnell eilten John und ich ihm hinterher.
"Wiedersehen, Molly! Bis bald, Greg! Regen Sie sich nicht auf!", rief ich noch schnell, dann schloss sich die Aufzugtüren vor uns und wir standen wieder im Aufzug auf dem Weg nach oben.

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt