XVI

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Meine Unterlippe bebte, während Tränen noch immer meine Wangen hinab rannen.
Johns Worte schwirrten durch meinen Kopf wie ein verwirrter Schmetterling. Nach und nach kam auch der Sinn hinter den Worten in meinem Hirn an und ich sank wieder in seine Arme.
"Das ist das schönste, was ich jemals gehört habe.", flüsterte ich und mein Herz zog sich zusammen. "Danke John. Du bist der beste Bruder, den ich haben könnte."
"Und ich meine es vollkommen ernst, okay?", fragte er leise und ich nickte. Nach diesen Worten könnte ich mich gar nicht mehr gegen seinen Willen selber ausliefern.
"Das ist ja wirklich niedlich, und ich zerstöre den Moment nur ungerne, aber wir müssen uns jetzt um eine äußerst wichtige Angelegenheit kümmern.", sagte Mycroft sanft und ich löste mich langsam von meinem Bruder. Auch seine Augen glitzerten und ich war beruhigt, dass ich nicht als einzige weinte. Ich nickte und atmete einmal tief ein. Sherlock warf mir eine Packung Taschentücher zu, mit denen ich meine Tränen trocknete und meine Nase putzte.
"Alles klar. Wo fangen wir an?", fragte ich dann und sah zwischen den beiden Brüdern mir gegenüber hin und her.

Die nächste Stunden redeten und überlegten wir zu viert.
Mycroft musste deshalb zwar sein Treffen mit Greg absagen, was mir wirklich leid tat, aber ich wusste, dass es so das beste war. Außerdem war, dem Gesichtsausdruck des Regierungsbeamten nach zu urteilen, ziemlich sicher, dass sie wohl ein neues Treffen haben würden. Zu einem anderen Zeitpunkt.
Während der Stunden kamen wir zu dem Schluss, dass es sich bei dem nächsten Opfer vermutlich um Nicky handeln würde, was mich noch einmal ein wenig aus dem Konzept brachte. Doch glücklicherweise war John sofort zur Stelle um mich zu trösten, was wirklich gut funktionierte. Allerdings störte mich an diesem Ergebnis etwas. Ich konnte nur nicht sagen was. Irgendetwas passte nicht in das Bild. Doch ich verdrängte den Gedanken, da er mich nur zu sehr verwirrt hätte. Des weiteren erzählte Mycroft uns, dass er vielleicht einen Hinweis auf den großen Boss hatte, und außerdem herausgefunden hatte, dass die Leitung von Moriartys Netzwerk nun unter drei Personen aufgeteilt war. Jason Fragrance, Theodore McAllister und Juliet Snow. Fragrance lebte wohl in der Bretagne, McAllister in Schottland, Edinburgh, und Snow in Kalifornien. Wir kamen zum Schluss, dass keiner von den dreien der Drahtzieher in unserem Fall war, weil dafür alle zu weit weg waren. Wir spielten mehrere Szenarien, wie wir den Drahtzieher überlisten könnten durch, doch nichts stellte beide Holmes Brüder zufrieden. Immer fanden sie noch etwas, was nicht sicher genug war oder was kleine Fehler aufwies.
Mrs Hudson versorgte uns die ganze Zeit mit Knabbereien und Tee und brachte mit jedem Mal, wo sie herein kam, ein bisschen frische Luft in die angespannte Atmosphäre, wofür ich sehr dankbar war. Mein Kopf rauchte bereits und ich hatte das Gefühl, an den Kopfschmerzen, die ich seit geraumer Zeit hatte, zu sterben.
"Ich kann nicht mehr...", stöhnte ich frustriert und ließ mich im Sofa nach hinten fallen. "Mein Kopf tut weh, ich bin müde und überhaupt. Warum überhaupt? Was haben die gegen mich?"
"Du bist für die nur ein Auftrag. Nimm es nicht persönlich.", antwortete Sherlock und faltete die Hände vor sich zusammen, um einen tiefgehenden Gedanken zu führen.
"Vielleicht solltest du dich etwas ausruhen gehen...", überlegte John und tippte mit seinem Kugelschreiber auf die Tischplatte vor uns. "Du hast morgen auch wieder Schule, da solltest du nicht halb tot auftauchen..."
Ich blickte zu Mycroft und dieser nickte zustimmend. "Das halte ich für eine ausgesprochen sinnvolle Idee. Wir werden wohl ohne dich klar kommen müssen, aber das werden wir verkraften."
Ich war zu müde um beleidigt zu sein, oder einen sarkastischen Kommentar abzugeben. Ich wollte einfach nur ins Bett und einen Mittagsschlaf machen. Ich erhob mich von meinem Platz, und stolperte zur Türe.
"Schlaf gut.", rief John mir noch hinterher und ich nickte. Dann verließ ich das Wohnzimmer und ging nach oben. Ohne mich umzuziehen schmiss ich mich auf mein Bett und kaum, dass mein Kopf das Kissen berührt hatte, schien ich auch schon eingeschlafen zu sein.

Ich stand an einer Straße.
Es war mitten in der Nacht. Es war dunkel und auch der Mond stand nicht am Himmel. Alle Sterne waren von Wolken verdeckt und das einzige Licht kam von einer alten Straßenlaterne. Kein weiterer Mensch, außer mir, war zu sehen. Doch plötzlich trat eine Person, ein Mann, aus dem Schatten und stolzierte die Straße entlang. Er hatte einen Regenschirm in der Hand, weswegen ich sofort Mycroft erkannte. Kein anderer Mensch hatte immer einen Regenschirm mit sich, mit Ausnahme von meinem Patenonkel. Lächelnd lief ich auf ihn zu, doch er sah mich nicht. Auch als ich direkt vor ihm stehen blieb blickte er einfach durch mich hindurch und ich realisierte, dass ich keinen Körper hatte. Er konnte mich gar nicht sehen. Ich war unsichtbar. Plötzlich kam ein schwarzer Wagen um die Hausecke gerast, blieb mit quietschenden Reifen neben Mycroft stehen und vier Männer sprangen heraus. Der Eine stülpte ihm einen Sack übern Kopf und ein zweiter holte mit einem Baseballschläger aus, um ihn bewusstlos zu schlagen.
Ich schrie, doch mein Schrei war tonlos.
Ich ging auf den einen Mann zu und schlug ihm direkt ins Gesicht, doch mein Schlag war kraftlos.
Ich war machtlos und musste dabei zusehen, wie die Entführer meinen Paten in den Wagen zerrten, die Türen hinter sich schlossen und wieder davon rasten. Mein Herz raste und ich schrie noch einmal, doch noch immer war meine Stimme tonlos.
Plötzlich änderte sich die Umgebung um mich herum und ich stand auf einem Friedhof. Neben mir standen John und Sherlock, Greg, Molly und Mrs Hudson und noch ein paar Leute, die ich nicht kannte. Ein Priester stand vor einem Grab und betete. Als ich mir den Grabstein genauer ansah erstarrte ich. Darauf stand: "Alexander Mycroft Chad Holmes - Bruder, Onkel, Patriot. Wir werden dich für immer in unseren Herzen tragen."
Augenblicklich stiegen Tränen in mir auf. Was war geschehen? Warum wurde Mycroft beerdigt?
"Warum ist er tot?", fragte ich leise. Meine Stimme klang seltsam weit entfernt.
"Hättest du damals etwas getan, wäre er nicht tot.", erklang plötzlich eine andere Stimme und ich drehte mich um. Hinter mir standen Sherlock, Greg und John und fixierten mich mit bösen Blicken.
"Wenn du nur ein bisschen intelligenter wärst, hättest du es bemerkt.", stimmte auch Sherlock seinem Vorredner zu.
"Ich bin enttäuscht von dir, Lilith."
Diese Worte aus Johns Mund zu hören waren das Schlimmste. Sie trafen mich ins Herz und durchbohrten es wie unzählige Messer.
"Ich-", versuchte ich mich zu erklären, doch mir fiel nichts ein.
"Wegen dir ist mein Sohn tot!", schrie Sherlocks Mutter mich an. Ich hatte einmal ein Bild von ihr gesehen, wusste daher, wie sie aussah.
"Das wollte ich doch nicht...", flüsterte ich und Tränen rannen aus meinen Augen.
"Das glaubt dir keiner!", hörte ich Greg sagen. "Ich habe diesen Mann geliebt, und du hast zugelassen, dass er stirbt!"
"Nein...", wimmerte ich. "Bitte."
"Du hast nicht das Recht, irgendwelche Anforderungen zu stellen!", sagte Sherlock scharf und ich sank auf meine Knie.
"Bitte, hört auf. Hört auf, mich zu beschimpfen. Bitte.", flehte ich. Doch sie hörten nicht auf.
"Ich fasse es nicht, dass ich dich als meine Schwester bezeichnet habe."
Mit diesem Satz war es um mich geschehen. Ich begann laut zu schluchzen, wandte mich auf dem staubigen Boden und schrie immer wieder abwechselnd nach Sherlock, John und Mycroft. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter und rüttelte mich vorsichtig. Ich versuchte meine Augen zu öffnen, aber ein gleißendes Licht erfüllte den Friedhof, bis dieser sich auflöste und ich meine Augen zukneifen musste. Was geschah mit mir?

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt